September 2025 | Von Befreiungsschlägen, Momenten des Umbruchs und des Neubeginns erzählen diese sechs Empfehlungen von Vera Corsmeyer

Jonathan Coe
Der Beweis meiner Unschuld

Was genau ist Jonathans Coes neuer Roman? Ein Krimi, eine Satire, eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse? Unterhaltsam schreibt er von den 49 Tagen, in denen Liz Truss Premierministerin war, ohne dass diese überhaupt vorkommt. Auf einer Konferenz von Rechtskonservativen wird ein linker Journalist ermordet und seine Recherchen verschwinden. Doch das ist nur die Rahmenhandlung für diesen in vier literarische Formen gegliederten Meta-Roman. Auf der Suche nach dem Täter geht es vielmehr um die britische Politik der vergangenen Jahrzehnte, das „postfaktische“ Zeitalter und viele Beobachtungen des Autors mehr. Das Fazit also: Coe hat einen Kriminalroman geschrieben, der zugleich ein politisches Rätsel aufwirft; ein ernstes Werk, das mit Humor spielt. Vor allem aber ist die Lektüre ein großes Vergnügen, das zum Nachdenken anregt.

Folio Verlag, aus dem Englischen von Cathrine Hornung | 240 Seiten | 28 €

Philippe Collin
Der Barmann des Ritz

Paris 1940: Im glamourösen Ritz-Hotel trifft Luxus auf die Härte der Besatzung. An der Bar steht Frank Meier, jüdischer Barmann und einst gefeierter Cocktailkünstler. Nun serviert er Martinis und Champagner für deutsche Offiziere, Kollaborateure und die französische High Society – stets in der Angst, entdeckt zu werden. Collin schildert nicht nur die schillernde Welt hinter den goldenen Spiegeln, sondern auch die Schattenseiten: das Netz aus Spitzeln, die schleichende Bedrohung und die Frage, wem man trauen kann. Frank schwankt zwischen Anpassung und verdecktem Widerstand, zwischen Pflicht und Gewissen. So entsteht das vielschichtige Porträt eines Mannes, der inmitten von Intrigen und Verrat, versucht seine Würde zu bewahren. Historische Genauigkeit verbindet sich mit erzählerischer Eleganz zu einem packenden, nachhaltig bewegenden Roman.

Insel Verlag, aus dem Französischen von Amelie Thoma | 447 Seiten | 25 €

Kirsty Capes
Girls

Näher als auf dem bekanntesten Ge-
mälde ihrer Mutter waren sich die beiden Matilda und Nora nie. Ihre (gemeinsame Kindheit) war überschattet von der dominanten Künstlerin, die ihren exzentrischen Lebensstil auf Kosten ihrer Töchter pflegte. Nach ihrem Tod soll eine Retrospektive in San Francisco gezeigt werden – gegen ihren ausdrücklichen Willen. Nichts sollte von ihr bleiben, um diesem Wunsch nachzukommen, begeben sich die beiden Schwestern mit Matildas Tochter auf eine Reise von London quer durch die USA. Auf sich selbst zurückgeworfen, nähern sich die drei Frauen den eigenen und den gemeinsamen Ängsten und Wunden. In ihrem dritten Roman lotet Kirsty Capes aus, wie tief familiäre Wunden sitzen können und warum Mo-
mente der Leichtigkeit nicht immer für alle gelten. Authentisch, emotional und mit wachem Blick für ihre Charaktere entsteht so eine kluge Familienstudie.

btb, aus dem Englischen von Judith Schwaab | 544 Seiten | 25 €

Tim Staffel
Wasserspiel

Als Videograph und Aquaphobiker reist Roberto Böger um die Welt und dokumentiert Verbrechen um das Allgemeingut Wasser. Der Großkonzern Dell‘Aqua hat Wasser zur Ware erklärt und nun das ostwestfälische Lüren
als Ort seiner neuen Mineralwasserquelle auserkoren. Ausgerechnet die Kleinstadt, in der Roberto noch Robert war und große Teile seiner weniger glücklichen Kindheit verbracht hat. Zurück in Lüren, trifft Roberto auf Humphrey, vielleicht ein jüngere Version seiner selbst. Die beiden Männer werden zu den treibenden Kräften im Widerstand gegen den Wasserkonzern. Tim Staffels vierter Roman liest sich wie ein mahnender Text, was passieren kann, wenn Wasser nicht mehr selbstverständlich ist. Ein Szenario, das wahrscheinlicher ist, als wir uns oft eingestehen wollen. Wendungsreich, leicht überdreht und gleichzeitig erschreckend präzise beobachtet.

Kanon Verlag, 208 Seiten | 24 €

Alexander Rupflin
Protokoll eines Verschwindens

Eine junge Ärztin überredet ihren
Bruder, aus der Favela Rios nach Hamburg zu ziehen, erst scheint der Neustart zu gelingen – bis er plötzlich spurlos verschwindet. Während die Schwester in einem fremden Land verzweifelt nach Antworten sucht, muss ein Pfleger sich mit einer grausamen Entdeckung in seinem Gästezimmer auseinandersetzen, ohne gleichzeitig sein unauffälliges Leben zu verlieren. Mit präzisem Stil, psychologischer Tiefe und feinem Gespür beleuchtet der Kriminaljournalist und ZEIT Verbrechen-Autor Alexander Rupflin die Perspektiven der Angehörigen und des mutmaßlichen Täters ein. Statt reiner Spannung setzt die Geschichte auf die leisen, verstörenden Töne und zeichnet das zerrissene Bild einer Gesellschaft zwischen Hoffnung, Ohnmacht und Wahrheitssuche. Ein realer Fall – erschütternd wie literarisch erzählt.

HarperCollins Berlin | 288 Seiten | 24 €

Anna Maschik
Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten

Mit lakonischer Präzision und zugleich einer fast archaischen Wucht eröffnet dieser Roman den Kosmos einer norddeutschen Familienlinie – in miniaturhaften, poetischen Fragmenten. Ein heimlich geschlachtetes Schaf bildet den rituellen Kern, aus dem sich das Leben auf dem Bauernhof entfaltet: Die Urgroßmutter rührt Blut für die Wurst, der Großonkel schläft fünfzehn Jahre, die Großmutter stiehlt nachts Ziegel vom Dach. Alma, die Urenkelin, versammelt die Splitter dieser Generationengeschichte – von kargem Alltag über Neuanfänge bis in die Gegenwart. Figuren verwandeln sich in Möbel, Wölfe, Zitronenbäume; Sprache kondensiert zu poetischen Miniaturen, die hallen wie ein Resonanzkörper. Das faszinierende Debüt einer jungen österreichischen Autorin, das Alltag und Magie verwebt und von Herkunft, Scheitern und Selbstfindung erzählt.

Luchterhand | 240 Seiten | 23 €