„Spiegel der Gesellschaft“
Historikerin Dr. Mareen Heying (Bochum) über die Bedeutung von Gaststätten allgemein und speziell in Gütersloh
Die jüngste Fortsetzung der erfolgreichen Gesprächsreihe Erzählcafé, dieses Mal in der Gaststätte Blue Fox zum Thema Kneipen und Bars in Gütersloh, machte im lebhaften Austausch der Gäste deutlich, wie sehr die Kneipe ein Spiegelbild unserer Gesellschaft als sozialer Raum, als Ort der Geschichten und als Herzstück des städtischen Lebens ist. Grund genug für gt!nfo, das Thema mit Dr. Mareen Heying zu vertiefen, die sich unter anderem mit dem sozialen Phänomen der Gaststätte in der Geschichte bis zur Gegenwart wissenschaftlich beschäftigt. Das am 1. Mai 2025 erscheinende Buch
„Gütersloh – Geschichte einer Stadt (1945-2025)“ wird einen Beitrag der Historikerin mit dem Titel „Vergangene Geselligkeit, Kneipen, Gaststätten und Alltag“ enthalten.
Frau Dr. Heying, ich gehe gerne mal in die Kneipe und bin nicht selten überrascht, wie viele Menschen abends so unterwegs sind. Ist das typisch für die Kneipe hier bei uns und überall im Lande?
Heying: Das kann ich nicht pauschal sagen, aber richtig ist, dass wir Menschen diese sozialen Räume der Geselligkeit suchen und sicherlich auch brauchen.
Warum brauchen wir sie?
Heying: Eine traditionelle Kneipe, und nicht nur sie, verspricht uns eine gute Zeit und Sozialleben. Wir können aus dem Trott kommen, die Tapeten wechseln. Es ist gewissermaßen ein Dritter alltäglicher Ort, an dem wir anderes erleben und erleben wollen, als zu Hause oder bei der Arbeit.
War das immer so bei den Kneipen – oder hatten sie früher auch eine andere Funktion?
Heying: Historisch waren die Kneipen im Zuge der Industrialisierung zunächst der zentrale soziale Raum für die Arbeiterklasse außerhalb der engen Wohnung. Um 1900 entstanden parallel die ersten Gewerkschaftshäuser, vorher hatten sich die Gewerkschaftsmitglieder noch in den Kneipen getroffen. Seitdem haben sich bestimmte Gruppen immer auch ihre eigenen Räume gesucht, um mehr unter sich zu sein. Das konnten politische Gründe sein, gesellschaftliche, kulturelle, sogar konfessionelle. Und natürlich altersbedingte: Neue Generationen wollen eher eigene Räume, eine jüngere Kultur entwickeln, und sie wollen vielleicht auch nicht belehrt werden.
In der Nachkriegszeit gab es doch einen regelrechten Boom der Kneipen in Deutschland und auch in Gütersloh, oder?
Heying: Ja, vor allem in den 50ern, als die meisten Leute noch keinen Kühlschrank und keinen Fernseher hatten, da konnten sie in der Gaststätte ein kaltes Bier genießen, etwas essen, die Lottozahlen sehen, sich ein Fußballspiel anschauen, knobeln, Karten spielen und so weiter. Als die Fernseher und die Kühlschränke in die Haushalte kamen, spürten das die Wirtsbetriebe. Die Menschen kamen nicht mehr so oft in die Gaststätte.
Wenn Sie die Kneipen- und Gaststättenhistorie in Gütersloh betrachten: Sehen Sie da etwas spezifisches, traditionelles, typisches, was die Szene hier immer ausgezeichnet hat?
Heying: Ich glaube, man kann sagen, dass die Gaststättengeschichte in Gütersloh eine beständige ist. Eine vielfältige Kneipenlandschaft ist bis heute geblieben und auch ein Traditionsbewusstsein bei den Güterslohern, was ihre Kneipen betrifft. Die Orte werden noch geschätzt.
Dennoch gab und gibt es immer wieder Kneipenschließungen.
Heying: Sicher, schon von 2007 bis 2017 sank die Zahl der Kneipen um 21,7 Prozent von 581 auf 458 Betriebe, und die Entwicklung hält ja noch an. Die Gründe sind vielfältig: Etwa seit den 80ern wird generell weniger Alkohol konsumiert, die Menschen wurden damals schon gesundheitsbewusster – und sie wollten mehr erleben: Event-Gastronomie, Cocktails, andere Orte. Wo die einen schließen mussten, eröffneten neue Betriebe. Kneipen bedienen Bedürfnisse der Gäste: Schon im 19. Jahrhundert gab es zum Beispiel so genannte „Polenkneipen”, in die Arbeiter aus Polen gingen. Auch im Zuge der Migration durch so genannte „Gastarbeit” haben sich migrantische Menschen ihre eigenen Räume geschaffen, in denen sie sich austauschen konnten. Dazu kommt, dass es auch immer wieder politische Entscheidungen gab, die das Geschäft erschwerten: 1973 sank die Promillegrenze fürs Autofahren auf 0,8, die beliebten Spielautomaten wurden höher besteuert, die Einführung des Euro war ein negativer Faktor und 2008 kam das Rauchverbot.
Die hat aber auch neue Gäste in die Kneipen gebracht.
Heying: Das stimmt, aber das ist immer ein langsamer Prozess. Ich will keinen falschen Eindruck hinterlassen: Im Kern scheint mir die Kneipenszene in Gütersloh nicht bedroht. Viele Betriebe haben seit Jahr und Tag ein treues Publikum. Wer in Gütersloh ausgehen will, hat eine immer noch reiche Auswahl.
Aber es gibt nach Auskunft der IHK aktuell nur noch 236 Unternehmen, darunter 195 Kleingewerbebetriebe. Andreas Kerkhoff, Geschäftsführer vom Appelbaum, benannte uns gegenüber klar die Gründe: Corona, keine Nachfolge, kein Personal, Kostendruck und die Gäste haben weniger Geld in der Tasche.
Heying: Das ist richtig, das ist eine bundesweite Entwicklung. Aber um die historischen, gewachsenen Kneipen und Gaststätten brauchen wir uns in Gütersloh eher keine Sorgen zu machen.
Sie sprachen ja über die historische Bedeutung der Kneipe als politischer Raum. Wie war das in Gütersloh?
Heying: Es gab in den 1920er-Jahren viele rechte und kommunistische Kneipen, die ausschließlich von den eigenen Leuten besucht wurden. Das gab es natürlich auch in Gütersloh. Zum Beispiel fanden in dieser Zeit im Restaurant Rehm erste geheime Treffen von Nationalsozialisten statt. Der Eigentümer warb ab 1933 mit dem Slogan „Der Nationalsozialist verkehrt beim Parteigenossen Gustav Rehm“. Für meine Recherche habe ich mit den Gütersloher Zeitzeugen Eckhard Möller und Hubert Kochjohann gesprochen. Sie betonten die politische Bedeutung von Kneipen bis weit in die 1980er-Jahre. Wie sich die politische Bedeutung von Kneipen in Gütersloh seither gewandelt hat, wäre eine spannende Forschungsfrage, die noch zu untersuchen ist.
Die 80er waren die Zeit, wo man politisch heftig diskutierte, zu Hause und in den Kneipen.
Heying: Ja, wobei Eckhard Möller sich daran erinnert, dass es gute Gespräche waren, die auch die Kneipengeselligkeit prägten. Einige Kneipen waren dezidiert politisch ausgerichtet. So hätten sich laut Möller im Nordpol bis zum Verbot der KPD 1956 in Westdeutschland kommunistische Gruppen getroffen. In den 1990er-Jahren wurde es eine politisch rechte Kneipe, und in den vergangenen Jahren ein eher unpolitischer Ort zum Fußballgucken. Inzwischen ist sie ja geschlossen. Im Zum Spieker an der Hohenzollernstraße trafen sich die ersten 68er. Im Zum kleinen Groben in der Georgstraße haben sich die Frauen der SPD getroffen.
Wie wichtig ist der Gastwirt beziehungsweise die Gastwirtin für den Erfolg einer typischen Kneipe?
Heying: Der ist sogar extrem wichtig. Wer zur Sprottendiele wollte, sagte westfälisch: „Ich geh nach Josef“ (Josef Meyer, Anm. d. Red.). Oder „Ich geh nach Puttchen“ (Waltraud Neumann, Anm. d. Red. ) auf dem Weg zum Türmer, einer Stammkneipe vieler Vereine. Die Wirtinnen und Wirte prägten die Gaststätten. Die Lokalpresse berichtete viel über sie, besonders bei runden Geburtstagen. Die Gastfreundlichkeit von Mathilde
Appelbaum stand im Mittelpunkt ihres Porträts 1986 in der Neuen Westfälischen. Sie stand mit 80 Jahren noch täglich in der Küche und war damit „Güterslohs älteste Wirtin“. Vorher hatten sie und ihr Mann 15 Jahre lang die Alte Heuwaage gepachtet.
Dort hängt ja heute noch das „Ecki“-Porträt von Eckard Fischer-Fürstenau am Giebel, dem 2014 verstorbenen legendären Wirt. Auch Walter Schmäling ist so eine geschichtliche Figur mit seiner ikonischen Kneipe Piano am Dreiecksplatz. Peter Roggenkamp fällt mir ein, auch Jürgen Vogelpohl vom Bermpohl und unvergessen ist „HDS”: Hans-Dieter Siewecke mit seiner Deele und später dem Stadthallenrestaurant.
Heying: Genau, das sind deutliche Beispiele für die wichtige Bedeutung der Wirtsleute in Gütersloh.
Bleibt die Eckkneipe fürs Feierabendbier, sofern es sie in dieser Form noch gibt, den Männern vorbehalten? Eine Solodame geht da ja immer noch kaum rein?
Heying: Weil es falsch verstanden werden könnte. Andererseits gibt es eine Eroberung des Kneipentisches durch die Frau, nicht allein, aber zusammen mit Freundinnen oder zum Beispiel mit Arbeitskolleginnen. Und das freut mich. Bei Szene-Kneipen ist diese Entwicklung ja selbstverständlich.

Zur Person
Dr. Mareen Heying
Die Historikerin studierte Geschichte, Gender Studies und Philosophie in Bochum, Düsseldorf und Bologna und wurde 2017 in Bochum und Bologna promoviert. Aktuell arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für soziale Bewegungen in Bochum. In Publikationen zu den Themen Kneipen und Alkohol zeigt sie auf, dass die städtische Kneipe im 19. Jahrhundert ein zentraler Kommunikations- und Schutzraum war. (www.mareenheying.de)
Foto: Franz*i Betz/Dokness