Großer emotionaler Anker …

Interview mit „Gauthier Dance“-Compagnie Chef Eric Gauthier zur Produktion „Turning of Bones“

Am 30. und 31. Oktober präsentiert das Theater Gütersloh die mit Spannung erwartete Produktion „Turning of Bones“ mit Gauthier Dance. Im Interview mit gt!nfo spricht der Künstlerische Leiter Eric Gauthier unter anderem über die Zusammenarbeit mit dem britischen Starchoreografen Akram Khan, dessen Choreografie die Grenzen von Erinnerung und Identität neu auslotet. „Turning of Bones“ vereint Auszüge aus Khans ikonischen Werken und lädt das Publikum ein, in eine faszinierende Welt aus Bewegung, Musik und kulturellem Erbe einzutauchen.

Im Gespräch: Eric Gauthier. Foto: Jeanette Bak

Erst einmal herzlichen Glückwunsch! Nachdem Gauthier Dance im vergangenen Jahr vom Fachmagazin Tanz geehrt wurde, folgte nun die Auszeichnung zur Compagnie des Jahres von tanznetz.de. Bei so viel Erfolg: was verbleiben für Ziele?
In der Tat – die Latte liegt mittlerweile ziemlich hoch. Und in künstlerischer Hinsicht kann ich sagen: Die Herausforderung besteht fast eher darin, dieses hohe Niveau konstant zu halten. In finanzieller Hinsicht haben wir dagegen noch längst nicht alles erreicht, was nötig wäre, um Gauthier Dance wirklich zukunftssicher zu machen. Verglichen mit den Kompanien von Staatstheatern leisten wir immens viel für einen Bruchteil des Etats. Mein größter Wunsch ist deshalb tatsächlich mehr finanzielle Sicherheit.

Können Sie sich die Starchoreografen der Welt inzwischen aussuchen, weil die Klasse Ihrer Compagnie allerorts bekannt ist?
Im Prinzip ist das tatsächlich so, was die Bereitschaft anbelangt, mit Gauthier Dance zusammenzuarbeiten. Durch das extensive internationale Touring und unseren guten Ruf muss ich nicht mehr viel Überzeugungsarbeit leisten. Viel komplizierter – auf beiden Seiten – ist die Terminplanung. Unser aller Kalender sind voll. Und natürlich müssen die Choreograph*innen inhaltlich zu den Programmen passen, die ich für die kommenden Spielzeiten konzipiert
habe.

Wie haben Sie es geschafft, eine solch herausragende Truppe an einem Haus wie dem Theaterhaus Stuttgart zusammenzubringen, das trotz exquisiter Arbeit und großem Zuschauerzuspruch, nicht die ganz großen Finanzmittel zur Verfügung hat?
Das liegt natürlich ganz stark am Theaterhaus selbst. Werner Schretzmeier und seine Mannschaft haben sich mit maximaler Risikobereitschaft auf das Experiment Gauthier Dance eingelas- sen und uns vom Tag 1 an voll unterstützt. Das war und ist alles andere als selbstverständlich für ein von einem Verein getragenes Privattheater. Zumal das Theaterhaus zunächst eher buchstäblich ein Theaterhaus war, mit einem eigenen Schauspielensemble. Wir sind stolz, dass das Theaterhaus inzwischen mindestens genauso sehr ein Tanzhaus geworden ist! Dazu kommt natürlich die viele harte Arbeit, auch was die Sponsorensuche anbelangt. Für mich ist das nicht immer leicht. Manchmal komme ich mir eher vor wie ein Fundraiser als ein künstlerischer Leiter. Aber die Mühe lohnt sich.

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Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Akram Khan, der eigentlich fast ausschließlich mit seiner eigenen Compagnie arbeitet, und was zeichnet für Sie seine Arbeit aus?
Alles begann mit Akram Khans Tanz-Epos Outwitting the Devil, das hier in Stuttgart uraufgeführt wurde, in Koproduktion mit der dritten Ausgabe des COLOURS International Dance Festivals 2019. Auf diese Weise lernte Akram unsere Arbeit kennen, und seitdem waren wir immer wieder in Kontakt. Dennoch dauerte es sechs Jahre bis zur Weltpremiere von Turning of Bones. Aber die Geduld und die intensive Kreations- und Probenarbeit über sage und schreibe drei Spielzeiten haben sich ausgezahlt. Denn Akram ist tatsächlich ein Choreograph, der Gauthier Dance unglaublich weitergebracht hat. Die virtuose, vom klassischen indischen Tanz inspirierte Bewegungssprache ist das eine. Dazu kommt die innere Bewegung, die grundsätzlich motiviert ist durch eine innere Logik der Gefühle. Die Tänzer*innen müssen konstant in Verbindung mit diesen Gefühlen sein, auch in Momenten, in denen sie vielleicht nur in der Gruppe im Hintergrund stehen. Die Arbeit mit Akram wareine absolut bereichernde, intensive Erfahrung für unsere Company.

Sich mit den Ahnen aus dem Totenreich zu verbinden klingt erst einmal düster. Lässt sich in „Turning of Bones“ dennoch auch die von Ihnen oft propagierte „sonnige Seite des modernen Tanzes“ erleben?
Das stimmt: Die „sunny side of dance“ findet man bei Turning of Bones eher nicht. Aber seit unserem Start vor 18 Jahren hat sich die Company naturgemäß weiterentwickelt. Wir haben immer noch Programme, die man eher dieser „sunny side of dance“ zuordnen kann. Aber es ist wie im echten Leben. Es gibt auch die andere Seite. Und auf dieser Seite steht Turning of Bones. Abgesehen davon: Die unglaublich bewegende Liebesgeschichte im Zentrum des Stücks ist ganz klar so etwas wie ein großer emotio- naler Anker. Das ist Romeo und Julia von Akram Khan.

Das Konzept von „Turning of Bones“ hat etwas von einer Werkschau. Wer hatte die Idee dazu und was erwartet das Gütersloher Publikum an diesem Abend?
Ursprünglich sollte Turning of Bones tatsächlich so etwas wie eine Werkschau werden, mit einem neuen Stück und Szenen aus Akram Khans klassischen Produktionen. Aber durch die lange Probenarbeit hat sich alles in eine ganz andere Richtung entwickelt. Akram Khan hat wirklich intensiv mit unseren Tänzerinnen gearbeitet und dann letztlich aus alten Knochen einen neuen Körper geformt. Das ging bis buchstäblich Stunden vor der Premiere! Die bestehenden Szenen, die Akram benutzt hat, sind so stark überarbeitet, dass man sie als neu bezeichnen muss. Die Bewegungsabläufe und der Kontext sind komplett anders, wie Teile eines Puzzles, die neu kom- biniert werden und so ein anderes Bild ergeben. Zusätzlich verbunden ist das Ganze durch eine Liebesgeschichte, die den Abend erzählerisch zusammenhält. Insofern: Das Publikum in Gütersloh kann sich wirklich freuen. Zumindest wenn ich von den bisherigen Vorstellungen ausgehe. Die Zuschauerinnen beim COLOURS-Festival sind – ich kann es nicht anders sagen – beinahe ausgeflippt. Und die Besprechungen waren einhellig begeistert.

Der britische Starchoreograf Akram Khan. Foto: Camilla Greenwel

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