Gar nicht so schlecht!

Das Leitbild für Gütersloh blieb Entwurf

Die Zehn Gebote waren – soweit bekannt – in Stein gemeißelt. In Gütersloh liebte man es schon immer ein paar Nummern kleiner. Deshalb hat es das Leitbild, das 1999 von der damaligen Bürgermeisterin Maria Unger und Rudolf Miele als Vorsitzenden des Initiativkreises Stadtmarketing unterzeichnet wurde, optisch nur zu einer selbstgestrickten Entwurfsfassung geschafft. Dabei handelte es sich um nichts Geringeres als die Leitplanken für die allgemeine Stadtentwicklung in den nächsten zehn Jahren. Hat sich da eigentlich jemand drum geschert? – Zeit für eine Wiedervorlage.

Spoiler vorab:  Obwohl das Gütersloher Leitbild „Unterwegs in eine gute Zukunft“ kommunalpolitisch betrachtet für immer im Entwurfsstadium stehengeblieben ist, hat es doch einiges an Wirkung gezeigt. Als komprimierter Text ist es das Ergebnis intensiver Arbeit verschiedener Themen-Arbeitsgruppen, zu denen sich Mitte der Neunziger des vorigen Jahrhunderts Gütersloher Bürger und Bürgerinnen zusammengefunden hatten. Das Prinzip: einen gewissen Querschnitt durch die Bevölkerung zu erreichen, Wirtschaft und Institutionen mit einzubinden.

Elf Handlungsfelder wurden mit Leitsätzen und und Zielformulierungen versehen, die „den Weg unserer Stadt im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends markieren sollten,“ wie es Rudolf Miele beim Pressegespräch zum Vorbild des Entwurfs formulierte. Vorausgegangen waren Analysen des Ist-Zustands, Brainstorming zu Identitätsfragen, Diskussion über die Rolle „neuer“ Kommunikationsmittel wie dem Internet und die Frage, welche Prioritäten das Leitbild widerspiegeln sollte.

Jugend, Bildung und Arbeit, Wirtschaft, Natur und Umwelt, Freizeit und Sport, Kultur, Gesundheit, attraktive Innenstadt, Stadt und Stadtteile, Mit-Menschen und Kommunikation waren schließlich die Schlüsselbegriffe, um die sich die Zielformulierungen rankten. Nicht zuletzt Rudolf Miele selbst hatte die Marschrichtung vorgegeben:  kurz, verständlich, nachvollziehbar – und bitte keine Worthülsen.

Das Prinzip: einem Leitsatz folgen Zielformulierungen, die auch Handlungsempfehlungen enthalten. Dabei steht eine aus heutiger Sicht durchaus mutige Aussage über allem, ebenfalls ein Ergebnis aus den Diskussionen in den Arbeitskreisen:  selbstbewusst die Rolle der „großen Mittelstadt“ ausbauen und durchaus Überschaubarkeit als Qualitätsmerkmal positionieren, was eine dynamische Entwicklung nicht ausschließen sollte. Eine Reminiszenz an den „Gütersloher Superlativ“?  Gütersloh stand damals knapp unterhalb der 100 000-Einwohner-Grenze und sah tatsächlich seine Stärken in „Nähe und Nachbarschaft“ mit großstädtischen Angeboten, ein Claim, der in viele Stadtwerbe-Maßnahmen Eingang gefunden hat.

Ganz bewusst stehen Jugend, Bildung und Ausbildung oben auf der Liste der Handlungsfelder, denn „Unterwegs in eine gute Zukunft“ setzt  auf die nachwachsende Generation. Eindeutige Selbstverpflichtung, ohne wenn und aber formuliert: die Ansiedlung eines Hochschulangebots – in enger Abstimmung mit der heimischen Wirtschaft.

Der Weg war nicht immer einfach, aber mit dem Campus Gütersloh der Hochschule Bielefeld und seinen praxisintegrierten Studiengängen in Bereichen wie Sofware Engineering oder Wirtschaftsingenieurwesen darf dieses Ziel wohl auf der Haben-Seite verbucht werden.

Konkret auch der Leitsatz zur Kultur: „Priorität hat ein Theaterneubau“. Dass es noch schmerzhafte politische Diskussionen und zwei Bürgerentscheide bis zur Realisierung brauchen sollte, zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ab. Mit der Eröffnung im März 2010 ist es gerade noch „just in time“ des Leitbild-Horizonts geschafft. Wegdenken will das in jeder Hinsicht erfolgreiche Haus heute wohl niemand mehr.

Weniger Augenmerk liegt zumindest zu diesem Zeitpunkt auf die Bandbreite des kulturellen Angebots. Alternativkultur ist kein Thema, stattdessen eine verstärkte Förderung der bildenden Kunst, in welcher Form bleibt allerdings vage. Dafür ist beim Theater Stiftersinn und Engagement der Wirtschaft direkt angesprochen: „Gefordert sind auch Firmen und öffentliche Institutionen.“

Die Zielformulierungen für eine attraktive Innenstadt wiederum haben in weiten Teilen wohl auch heute noch ihre Gültigkeit: eine Innenstadt mit eigenem Profil, mit einer Aufenthaltsqualität, die über den reinen Kommerz hinausgeht, mit bestmöglicher Erreichbarkeit und gastronomischen Angeboten. Klare Ansage  die Formulierung: „Bei der Akquisition neuer Einzelhändler erhalten unabhängige Existenzgründer den Vorzug.“ Immerhin saßen auch Einzelhandelsvertreter und Immobilienbesitzer mit am Tisch der Arbeitsgruppen.

Der Leitbild-Entwurf sollte aber keine apodiktische Vorgabe sein. Unger und Miele weisen im Vorwort darauf hin, dass sich daran „Diskussionen entfachen und Maßnahmen ausrichten sollen“. Zumindest in einem „Zukunftsforum“ im Mai 2000, das für alle Bürger und Bürgerinnen offenstand, ist in diesem Sinne daran weiter gearbeitet worden. Mittelbares Ergebnis, das letztlich auch auf die Leitbild-Zielformulierungen zurückgeht, war unter anderem die Gründung einer lokalen Umweltstiftung.

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In der direkten kommunalpolitischen Diskussion hatte der Leitbild-Entwurf dagegen weniger Erfolg – was möglicherweise an damaligen Mehrheitsverhältnissen lag, die nicht der Parteizugehörigkeit der Bürgermeisterin entsprachen. Eine Endfassung wurde jedenfalls nach Wissen der Autorin nie verabschiedet. Der „Entwurf“ war dafür auch in der Außenkommunikation erfolgreich. Denn Leitbild-Formulierungen lagen im Trend, und der Gütersloher Ansatz mit seiner breit angelegten Beteiligung hatte durchaus Vorbild-Charakter für andere Kommunen. So gesehen war der Weg in die Zukunft  „gar nicht so schlecht“, wie der Gütersloher sagen würde.

Foto und Illustration: Beate Freier-Bongaertz

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