„Ein stammelndes Sowohl als auch, einerseits, andererseits. Ja aber.“
Das neue Jahrtausend startete in Gütersloh mit einem Jahr voller Feste, Projekte und Veranstaltungen: Unter dem Motto „Gütersloh 2000 – 175 Jahre jung“ feierte die Stadt die Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1825.
Text: Joana Gelhart, Christoph Lorke und Tim Zumloh
Fotos: Stadtarchiv Gütersloh, Susanne Zimmermann, Rudolf Herrmann
Über eine Ideenbörse sollte die breite Beteiligung von Vereinen und privaten Initiativen erreicht werden – ein Vorgehen, das sich angesichts knapper Kassen bereits bei der 800-Jahrfeier 1984 bewährt hatte. Auch anlässlich des 200-jährigen Stadtjubiläums 2025 setzt die Stadt unter dem Motto 200 Jahre, 200 Highlights auf ein ähnliches Konzept. Einige der Projekte, die aus dem Stadtjubiläum 2000 hervorgingen, existieren bis heute, wie etwa die Kulturgemeinschaft Dreiecksplatz mit Volker Wilmking als Initiator, die die erste „Woche der kleinen Künste“ ausrichtete, oder der von Manfred Billinger gestaltete Fabelpfad im Stadtpark. Gehalten hat sich auch das Aushängeschild der Kommune: Das Logo der Stadt Gütersloh, wie wir es heute kennen, wurde im Kontext des Stadtjubiläums entwickelt.
Wie bei vorausgegangenen Jubiläen bot auch das Festjahr 2000 Anlass für einen rückversichernden Blick in die Vergangenheit. Viele Ideen, die die Bürger:innen eingereicht hatten, wie Erzählcafés, Fotowettbewerbe oder Ausstellungen, setzten sich mit der Geschichte Güterslohs auseinander.
Erstmals entschloss sich die Stadt auch für eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Stadtgeschichte bis 1945 durch ein Team um den Historiker Werner Freitag. Auch an diese Aufarbeitung wird mit der Veröffentlichung der Jubiläumsschrift im Frühjahr 2025 angeknüpft. Die Fortschreibung der Gütersloher Stadtgeschichte widmet sich den Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. In den 2000er-Jahren blieb die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte jedoch nicht nur auf das Jubiläumsjahr beschränkt: 2005 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig die ersten neun „Stolpersteine“ in Gütersloh. Die im Boden eingefassten Gedenktafeln sind überall im Stadtraum an Orten ehemaligen jüdischen Lebens zu finden. Sie erinnern an die Schicksale von Menschen, die während des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben und/oder ermordet worden sind.
Das Stadtjubiläum 2000 berührte nicht zuletzt Fragen des städtischen Selbstbildes. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend stand Gütersloh auch an der Schwelle zur Großstadt. In den 1990er-Jahren Jahren war die Stadt noch einmal stark gewachsen. Die Zahl der Einwohner:innen wuchs zum Ende des Jahrzehnts auf 95.000 an. Das Pendeln zwischen ambitioniertem Wachstum und ländlich geprägtem Umfeld trat um die Jahrtausendwende so offen zutage wie nie zuvor.
„Zwischen Kaff und Kosmos“ lautete der Titel einer Ausstellung, die 2001 im Stadtmuseum eröffnet wurde und dieses Pendeln auf den Punkt brachte. Auf die Frage, was Gütersloh nun eigentlich sei, fand Manfred Harnischfeger, Leiter der Unternehmens-Kommunikation bei Bertelsmann, die entsprechende Antwort: „Ein stammelndes sowohl als auch, einerseits, andererseits. Ja aber.“ Ein Jahr zuvor war ein Bildband von Susanne Zimmermann, Detlef Güthenke und Eckhard Kleßmann unter dem gleichen Titel erschienen, in dem sie historische und aktuelle Bilder des ländlich-provinziellen und des urbanen Güterslohs gegenüberstellten und kommentierten.
Konfliktreicher spiegelte sich das Pendeln zwischen „Kaff“ und „Kosmos“ in den Plänen um einen Theaterneubau, die Ende der 1990er-Jahre erneut aufgegriffen wurden. Sorgte das Großprojekt bei den einen vor dem Hintergrund der städtischen Haushaltslage für Rumoren, war der Neubau für die anderen eine längst überfällige Maßnahme – denn die Paul-Thöne-Halle entsprach schon lange nicht mehr den Bedürfnissen der wachsenden Stadt. Am Bau entzündeten sich verschiedene Grundsatzfragen: Wie wird in der Stadt Politik betrieben? Welche Kultur wird gefördert? Für wen wird Kultur gestaltet? Und was ist angemessen für „eine Stadt wie Gütersloh“? Das Thema polarisierte. Das zeigt sich etwa an der fast zeitgleichen Gründung des Theaterfördervereins und des Vereins BfGT unter dem Vorsitz von Norbert „Nobby“ Morkes. Letztere führten schließlich erfolgreich einen Bürgerentscheid herbei. Nach einem hitzigen Wahlkampf durften die Bürger:innen im Juli 2003 abstimmen: „Soll die Stadt Gütersloh trotz Finanzkrise ein neues Theater bauen?“ Obwohl Miele und Bertelsmann Spenden von insgesamt 5 Millionen Euro zusagten, falls die Gütersloher:innen für das Theater votieren sollten, stimmten 76 Prozent von ihnen gegen den Bau. Damit war das Thema für die nächsten drei Jahre vom Tisch. Nachdem der Entwurf des Architekten Jörg Friedrich noch einmal überarbeitet und die geplanten Kosten auf 22 Millionen Euro gesenkt worden waren, beschloss die Stadt 2006 doch noch den Bau. Im März 2010 wurde der Theaterkubus feierlich eröffnet. Heute ist er aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. In den 2000er-Jahren war allerdings weit mehr im Kulturleben der Stadt los als „nur“ Theater. 2008 wurde etwa die Städtepartnerschaft mit der russischen Stadt Rhsew geschlossen. Einst Ort blutiger Kämpfe zwischen Deutschen und Russen im Zweiten Weltkrieg, sollten die Beziehungen zwischen beiden Nationen gepflegt werden. Es kam anders: Seit drei Jahren ruht die Partnerschaft wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Auch in sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht waren die 2000er-Jahre bemerkenswert. Jenes Jahrzehnt, in dem mit Rudolf Miele (2004) und Reinhard Mohn (2009) zwei zentrale Unternehmerpersönlichkeiten verstarben, war von einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise geprägt. Die Stadt verhängte nicht zuletzt aufgrund von Steuerrückforderungen Bertelsmanns eine Haushaltssperre und beschloss ein Sparpaket. Wenig später erreichte die Zahl der Erwerbslosen 2003 und 2006 jeweils 9 Prozent. Das lag zwar noch unter dem bundesweiten Schnitt, die Folgen von ökonomischer Krise, Absatzschwierigkeiten und Entlassungswellen waren aber auch in Gütersloh spürbar.
Im Mai 2002 wurde die Gütersloher „Suppenküche“ gegründet, die bedürftigen Menschen eine kostenlose warme Mahlzeit, Lebensberatung und eine ärztliche Versorgung zur Verfügung stellte und überwiegend ehrenamtlich betrieben wurde. Als sich die Weltfinanzkrise in der Stadt 2009 zuspitzte und das größte Haushaltsdefizit der Gütersloher Geschichte dokumentiert wurde, regte sich Kritik gegen die Durchsetzung des Sparpakets. Anlässlich geplanter Kürzungen gründete sich die Initiative „Demokratie wagen“, die mehr Bürgerbeteiligung und Transparenz in politischen Entscheidungsprozessen forderte.
„Demokratie wagen“ ging auch auf die andauernden Auseinandersetzungen um die Weberei zurück. In den 2000er-Jahren traf das Bürgerzentrum abermals der Sparzwang. Dabei begann das Jahrzehnt zunächst erfreulich. Mit dem Umzug des Jugendzentrums in das Bauteil 5 wurde dieser Weberei-Teil seiner seit Langem vorgesehenen Bestimmung übergeben. Doch die Finanzierung der Weberei mit städtischen Zuschüssen bei gleichzeitiger Selbstverwaltung durch einen Trägerverein blieb Streitthema. Bereits in den 1990er-Jahren war ihr Betrieb zur „Sanierung“ übergangsweise an ein Beratungsunternehmen übertragen worden. Die Weberei wurde auf Wirtschaftlichkeit getrimmt, doch verantwortlich blieb zunächst ihr Trägerverein. Diese Selbstverwaltung endete aufgrund erneut hoher Schulden 2007. Zwar gab es Forderungen nach einem Weiterbetrieb durch einen neuen Verein. Doch der Insolvenzverwalter verwies auf die Gläubiger, die eine Kapitalgesellschaft bevorzugten. Als gemeinnützige GmbH sollte die Weberei weiter städtische Zuschüsse beziehen, dabei aber wirtschaftlicher agieren können. 2007 übernahm die gGmbH PariSozial. Die Weberei als Treffpunkt und alternative Kulturstätte blieb erhalten, doch kam die Vision des durch ihre Besuchenden selbst organisierten Zentrums an ihr endgültiges Ende. PariSozial blieb bis 2013 – Betrieb und Finanzierung der Weberei sind bis heute umstritten.