Das „Gütersloher Menschenkind“ im Porträt

Stoffbahnen über der mittleren Berliner Straße zeigen die gleiche Person über einen Zeitraum von 15 Jahren

Der Name bleibt ein Geheimnis. Das Gesicht jedoch hat sich inzwischen eingeprägt bei den Passantinnen und Passanten, die ihren Weg durch die mittlere Berliner Straße machen. Unter dem Titel „Gütersloher Menschenkind“ entfaltet sich eine außergewöhnliche Porträtreihe über den Köpfen – ein Projekt zum 200-jährigen Stadtjubiläum des ambitionierten Gütersloher Amateurfotografen Wolf-Dieter Tabbert. Seine Projektidee war eine von 200, die durch das aktuelle Jubiläumsjahr führen – eine der Bildgeschichten, die im wahrsten Sinne ins Auge fallen, die fotografische Dokumentation einer Entwicklung. Denn die Schwarz-Weiß-Porträts, bedruckt auf zwei mal zwei Meter großen Stoffbahnen, zeigen die gleiche Person über einen Zeitraum von 15 Jahren. Sechs Jahre war die junge Gütersloherin, als Tabbert sie zum ersten Mal für sein Fotoprojekt vor die Kamera geholt hat. Sein Gesamtkonzept reichte allerdings weiter: Über die Schuljahre hinweg porträtierte er die ganze Klasse seiner Tochter. „Das war möglich, weil es sich um die Waldorfschule handelte, in der die Schülerinnen und Schüler im Klassenverband bleiben“, erzählt Tabbert.

Die Besonderheit erschließt sich den Betrachtenden bei genauerem Hinsehen:  Alle Porträts bis zum 21. Lebensjahr sind in der gleichen Haltung, aus der gleichen Perspektive, im gleichen Bildausschnitt aufgenommen. Das Ergebnis ist eine Art Zeitraffer in Slow Motion, der mit eindrucksvoller Klarheit die Entwicklung eines Kindes zur Jugendlichen und zur jungen Erwachsenen zeigt. Von all denen, die Tabbert auf diese Weise porträtiert hat, hat er sich für dieses „Gütersloher Menschenkind“ entschieden, „weil sie sich in gewisser Weise besonders treu geblieben ist.“ Das Erwachsenwerden dokumentiere sich fast ausschließlich im Gesicht.

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Auf Menschenporträts legt Wolf-Dieter Tabbert das Hauptaugenmerk seiner Fotokunst. Der 50-jährige Gütersloher, von Beruf Ingenieur und Schriftsetzer, hat die Fotografie bereits in seiner Jugend als Ausdrucksmittel entdeckt. Geblieben ist seine Hinwendung zur Schwarz-Weiß- wie zur analogen Fotografie. Tabbert arbeitet mit einer Hasselblad und entwickelt in der eigenen Dunkelkammer. „Ehrlicher“ nennt er die Arbeit mit Negativ, Entwickler und Fixierer, nicht ohne zu erklären, dass er die Digitalfotografie nicht „verteufele“. Mit dieser Haltung liegt er durchaus im Trend. Die Insider erkennen zudem klassische Qualitätsmerkmale: den schwarzen Rahmen, der nachweist, dass der Bildausschnitt mit dem Negativ festgelegt wurde, zwei kleine Zacken im Rand, die auf die hochwertige Profikamera hinweisen.

Die Hängung über der Fußgängerzone entwickelt nun in gewisser Weise ihre eigene Dynamik: Die Windverhältnisse bestimmen, was die Vorbeiziehenden zu sehen bekommen. Tabbert greift selbst ein – ausgestattet mit einer Leiter und einer längeren Holzlatte sieht man ihn manchmal die Stoffbahnen entwirren – und dabei ins Gespräch mit den Passanten kommen. Für Lena Jeckel und Eike Rehse vom städtischen Fachbereich Kultur, die nach einem dreiviertel Jahr Programm eine positive Zwischenbilanz des Jubiläumsjahres ziehen können, ist Tabberts Projekt typisch für das, was damit erreicht werden sollte: „Ziel war es, die Menschen, die hier leben, mit ihren Ideen einzubeziehen. Ich glaube, das ist gelungen“, sagt Lena Jeckel. „Das ‚Gütersloher Menschenkind’ hat seinen festen Platz in diesem Rahmen. Auf der einen Seite zeigen viele Projekte die Stadtentwicklung, hier ist die Entwicklung einer einzelnen Person zu sehen.“ Für Wolf-Dieter Tabbert ist das Projekt noch nicht beendet. Das „Gütersloher Menschenkind“ will zwar auch weiterhin nicht öffentlich in Erscheinung treten, „aber sie freut sich über die Wirkung und will weitermachen“, so Tabbert. Einmal im Jahr werden sich der Fotograf und die Protagonistin also wohl auch in Zukunft treffen: Gleiche Haltung, gleicher Ausschnitt. Zu sehen ist das „Gütersloher Menschenkind“ noch bis zum 31. Oktober über der mittleren Berliner Straße.

Die Leiter ist quasi Teil des Projekts: (v.l.) Lena Jeckel (Leitung Fachbereich Kultur), Fotograf Wolf-Dieter Tabbert, Eike Rehse (Fachbereich Kultur) und das „Gütersloher Menschenkind“ über ihren Köpfen in der mittleren Berliner Straße. Foto: Stadt Gütersloh.

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