Audiowalk durch Gütersloh
Geschichte? – Laaangweilig??? – Im Gegenteil: Im Gütersloher Jubiläumsjahr ist Stadtgeschichte mit großformatigen Fotos an Hauswänden, mit außergewöhnlichen Stadtführungen, mit Erzählcafés und einem ganz besonderen Zeitzeugen-Film, mit spannender Forschung, Stromkasten-Gemälden und vielen anderen Angeboten in den Alltag eingezogen.
Text: Susanne Zimmermann, Fotos: Stadtarchiv Gütersloh
Ein einzigartiges Projekt befindet sich auf der Zielgeraden: der „Audiowalk“, ein Gang zu besonderen Orten in der Stadt. Und das sind nicht die „üblichen Verdächtigen“. Forschung selbst ausgesucht Geschichte ist Wissenschaft, Geschichte ist Forschung, Geschichte schreiben wir alle. Wer das zu Ende denkt, ist schon mittendrin im Projekt „Audiowalk“, diesem etwas anderen Stadtrundgang, der voraussichtlich ab Mitte Oktober online verfügbar ist. Dass Karte und QR-Code zu ausgewählten Orten führen, deren Entwicklung erzählt wird, ist inzwischen gängige Praxis im Tourismusgeschäft. Die Gütersloher Besonderheit liegt im Ansatz: Autoren und Erzähler sind keine Profis und noch nicht einmal die Bekannten aus der Stadtgesellschaft. Es sind Menschen unterschiedlichen Alters, die hier leben und die sich den Gegenstand ihrer Forschung selbst ausgesucht haben.
Einer von ihnen ist Manuel Gehle. Er hat sich die Geschichte von Vossen zum Thema gemacht, einst Marktführer auf dem Gebiet der Frottierware, eines der drei größten Unternehmen in Gütersloh, seit 1998 Geschichte. „Und Gütersloh war der Ursprung der Frottierwaren,“ ergänzt Gehle. Der 50-Jährige ist im Umkreis des Unternehmens aufgewachsen und sagt über sich: „Mein Herz schlägt für geschichtliche Dinge“. Als Mitglied der Arbeitsgemein- schaft Straßennamen hat er früh von dem Projekt erfahren, das Historikerin Joana Gelhart zusammen mit Stadtarchivarin Julia Kuklik zum Leben erweckt hat.
Nicht allein gelassen
Was dann auf Manuel Gehle sowie die 13 anderen Autoren und Autorinnen zukam, war ein nicht unerhebliches Maß an Arbeit, aber auch ultimative Begeisterung, die sich im Gespräch immer wieder Bahn bricht. Fünf Monate Quellensammlung standen für ihn auf dem Programm: das Studium von Zeitungsartikeln aber auch von Originalquellen, Ordnung und Einordnung, Auswahl und Weglassen. Denn das Ziel war eine kurze, durchaus mit persönlicher Perspektive angereicherte Erzählung zum selbstgewählten Standort. „Und bring das, was du da erforscht hast, mal auf drei bis fünf Minuten,“ seufzt Gehle und gibt zu, dass er zunächst gar nicht davon ausging, „so viel zusammenzubekommen“. Aber ganz schnell hat ihn die Beschäftigung mit der Familie Vossen, dem Erfindergeist und der Entwicklung des Unternehmens in ihren Bann gezogen – das Leben des Gründers, der Sohn eines Spirituosenherstellers gewesen sei, die Anfänge dort, wo heute das Parkhaus an der Münsterstraße steht, die Geschichte des Handtuchs per se … Wie all das kanalisieren in eine Erzählung bis hin zum bitteren Ende in den Neunziger Jahren?
16 Stationen eingesprochen
Selbstredend wurden die Autoren und Autorinnen nicht allein gelassen, denn Coaching durch die Profis war Teil des Projektes, dessen Träger das LWL-Institut für Regionalgeschichte ist und das von der Bürgerstiftung Gütersloh gefördert wird. Joana Gelhart und Julia Kuklik haben, wo nötig, sanft anleitend durch die Recherchen geführt, über Urheber- und Bildrechte aufgeklärt, Anregungen zur Umsetzung gegeben, sich zum Beispiel einen „Leuchtturm“ im Dickicht der Informationen zu schaffen, an dem man die Erzählung ausrichtet. Verschiedene Workshops gehörten zum Projekt, die
Volkshochschule war eingebunden, das Team des Gütersloher Theaters stand beratend zur Seite. Inzwischen sind die insgesamt 16 Stationen des „Audiowalks“ durch Gütersloh eingesprochen. Ein Teil der Autoren, so auch Manuel Gehle, war selbst im Tonstudio, andere haben auf Profistimmen zweier Schauspieler gesetzt. Am 14. Oktober soll das Gesamtergebnis vorgestellt werden, fürs gt!nfo Gelegenheit, noch einmal detailliert inhaltlich auf die Ergebnisse einzugehen. Doch so viel kann nach dem „Probehören“ einzelner Takes schon verraten werden: Hier eröffnet sich die Chance auf einen neuen Zugang zur Stadtgeschichte, vielleicht dem am ähnlichsten, den engagierte Geschichtslehrer und -Lehrerinnen mit ihrer Schülerschaft immer wieder verfolgen. Das dokumentiert sich allein in der Auswahl der Orte, zu denen der „Audiowalk“ führen wird: Da taucht in der Liste neben „Klassikern“ wie dem alten Rathaus oder der Pankratius Kirche unter anderem „Ascaron“ an der Verler Straße 6 auf – einer der größten Videospiel-Entwickler Deutschlands. Das legendäre „Odeon“ in Isselhorst wird gewürdigt, wo BAP auftrat, als Kölschrock noch kein Thema war. Die „Holzheide“ und damit die Geschichte der Unterbringungwohnungsloser Menschen hat ein anderer Autor als Forschungsgegenstand ausgewählt. Ins Genre „Verschwundene Orte“ ist neben Vossen an der Neuenkirchener Straße auch das Elisabeth-Hospital an seinem alten Standort Dalkestraße (heute Bachschemm) einzuordnen.
Geschichte als erlebte Geschichte
Mit einigen Orten ist zudem eine sehr persönliche Perspektive verbunden: So verweist der Beitrag zur „Daltropstraße 9a“ auf die Geschichte seiner Autorin, denn die Adresse stand Ende der Achtzi- ger und Anfang der Neunziger für ein Übergangswohnheim, das Übersiedler-Familien aus Osteuropa beherbergte. Geschichte als erlebte Geschichte – ein weiteres Projekt-Ergebnis, das nun allen zugutekommt, die sich auf diese Erfahrung einlassen.
„Ich glaube, es ist uns ganz gut gelungen, die Vielstimmigkeit der Stadtgeschichte einzufangen,“ bilanziert Joana Gelhart. Dass sie mit dem Gang zu 16 Stationen – live oder im Netz – nicht den Schlussakkord setzt, liegt nahe. Eine Fortführung des Projekts in Kooperation zwischen Stadtarchiv und Volkshoschschule ist mindestens angedacht. Und diejenigen, denen aus Alters- oder anderen Gründen gerade klar wird, dass ja auch sie Teil dieser Geschichte sind, dürfen jetzt schon einmal den Selbsttest machen, was sie gern auf der Liste sähen: Wiltmanns Festsäle, Overbergschule, Katholischer Heinrich, Capitol und Bahnhofskino, Don Quichotte, Kaiserhof und Hertie, Doppeldeckerbusse und Klinik Murken, Parkbad, Post, SVA und DJK Gütersloh im Heidewald … Zugegeben, diese Auswahl ist höchst subjektiv, und die Ortsteile sind dabei noch gar nicht erwähnt. Es gibt halt unendlich viel zu erzählen in und über Gütersloh.



