Armut macht einsam


Arm? – Sind immer die Anderen. Oder? Der aktuelle Sozialbericht der Stadt Gütersloh mit dem Schwerpunkt Armut beschreibt unter anderem die „hohe Kinder- und Jugendarmut“, verzeichnet einen signifikanten Anstieg des Wohngeldbezugs und große Unterschiede zwischen den Sozialräumen. Ist Armut in der Mitte der Gesellschaft angekommen? – Fragen an Volker Brüggenjürgen (Caritas) und Dr. Susanne (ash), Sprecher und Sprecherin der Gütersloher Armutskonferenz, zu der sich mehr als 50 Mitglieder aus ganz unterschiedlichen Institutionen zusammengeschlossen haben. Ihr Merkmal: große weltanschauliche Bandbreite. Ihr Ziel: Armut sichtbar machen, aufklären, bekämpfen.

Interview: Susanne Zimmermann

Wie begegnet uns Armut in Gütersloh?

Susanne Kohlmeyer: Armut begegnet uns auch in Gütersloh so, wie viele sich das vorstellen: mit Wohnverhältnissen, die nicht gut sind, mit Menschen, die auf der Straße leben, mit Menschen, die in Mülltonnen nach Nahrungsmitteln oder Pfandflaschen suchen. Das sind die offensichtlichen Ausprägungen. Aber wir haben auch in Gütersloh Armut, die man vielleicht erst bei genauem Hinsehen erkennt. Das ist nicht nur materielle, sondern soziale Armut.

Susanne Kohlmeyer Sprecherin der Gütersloher Armutskonferenz.

Volker Brüggenjürgen: Ein paar Zahlen dazu:  Ab 65 Jahren fühlen sich durchschnittlich 20 Prozent der Menschen einsam. Bei Jugendlichen sind es bei den 16 bis 30-jährigen 45 Prozent, die sich sozial einsam fühlen. Genau das ist Armut an Teilhabe.

Susanne Kohlmeyer: Wir differenzieren hier zwischen „nicht genug Geld haben“ und  „niemanden haben“. Beides ist Armut, und oft hängt es miteinander zusammen.

Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Susanne Kohlmeyer: Nehmen wir ein ganz alltägliches. Kindergeburtstage sind inzwischen mit sehr hohen Ansprüchen verbunden. Unter Trampolinpark in Bielefeld oder Lasertec geht gar nichts mehr. Als Geschenk werden zudem Gutscheine aus Fachgeschäften von um die 20 Euro erwartet. Das ist nicht nur schwierig für Menschen mit Kindern, die Sozialleistungen beziehen, sondern auch für solche, die an der unteren Einkommensgrenze liegen und keine Unterstützung bekommen. Die müssen dann entscheiden, wo kann ich mein Kind hinschicken und wo muss es zurückstehen.

Volker Brüggenjürgen: Bei der Caritas verzeichnen unsere Mitarbeitenden eine eklatante Zunahme von Menschen, die sich in höchster Not an uns wenden. Da geht es ganz konkret um den leeren Kühlschrank, um den Mangel an Nahrung. Die Gründe sind vielfältig. Es gibt mehr arme Menschen in Gütersloh in ganz unterschiedlichen Bereichen. Aber dazu gehört auch, dass die sozialen Sicherungssysteme, auf die diese Menschen Anspruch haben, häufig zu lange für die Auszahlung brauchen. Manchmal fehlen Unterlagen oder die Bearbeitung dauert oder die betroffenen Personen wissen nicht, was zu tun ist. Oder sie schämen sich. So gibt es auch in Gütersloh Menschen, die über Monate kein Geld haben und versuchen Lebensmittel zu organisieren.

Volker Brüggenjürgen, Sprecher der Gütersloher Armutskonferenz.

Susanne Kohlmeyer: Diese Erfahrung macht im Übrigen nicht nur die Caritas, sondern auch viele andere. Alle Beratungsstellen laufen über. Das führt häufig zu langen Wartezeiten bei akuter Not, obwohl alle ihr Bestes geben.

Beim Verweis auf junge Menschen fällt mir der Begriff „Bildungsgerechtigkeit“ ein. Ein Dauerbrenner, auch wenn es um Armut geht.

Volker Brüggenjürgen: Armut verschlechtert die Bildungs- und Aufstiegschancen – bei materieller ebenso wie bei sozialer Armut.

Susanne Kohlmeyer: Das so genannte „Startchancenpaket“, das Fördermittel des Landes an vier Gütersloher Schulen mit besonders vielen benachteiligten Schülern und Schülerinnen vergeben hat, geht zumindest in eine richtige Richtung.  Aber offensichtlich reichen die Ressourcen für eine notwendige individuelle Förderung nicht aus. Die Struktur von Schule mit großen Klassen, zu wenigen Lehrkräften ist althergebracht.

Soeben ist die jährliche Fortschreibung des städtischen Sozialberichts in der Politik vorgestellt worden. Bestätigen die Zahlen dort, was die Mitglieder der Armutskonferenz in ihrer Tätigkeit registrieren?

Volker Brüggenjürgen: Der Armutsbericht 2025 der Stadt zeigt deutlich auf: Die Situation verschlechtert sich auf allen Ebenen. Armut betrifft immer mehr junge Menschen, aber auch die Altersarmut steigt weiter. Es gibt immer mehr Wohngeldempfänger und große Unterschiede zwischen den einzelnen Stadtteilen und Sozialräumen. Und doch ist etwas Positives festzustellen:  Mit der jährlichen Fortschreibung des Sozialberichts, an dessen Einrichtung die Armutskonferenz entscheidenden Anteil hat, ist bei der Verwaltung, aber auch der Bürgerschaft, die Sensibilität dafür höher geworden, dass auch eine vermeintlich reichere Stadt wie Gütersloh ein Armutsproblem hat. Erst wenn man ein Problem erkennt und annimmt, kann man Möglichkeiten entwickeln, etwas zu ändern.

Wo liegen die wesentlichen Ursachen für die Zunahme von Armut in den vergangenen fünf Jahren?

Susanne Kohlmeyer:  Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtverbands verweist darauf, dass mit der steigenden Inflation und steigenden Kosten insgesamt – vor allem seit Corona – Armut nochmal deutlich zugenommen hat.

Volker Brüggenjürgen: Aber auch in Gütersloh nimmt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich zu. Das ist hier zwar alles noch auf einem mittleren Niveau. Aber es wird dadurch auch schwieriger gerade für die Schwächsten einen regelkonformen Arbeitsplatz zu bekommen. Und auch eine einigermaßen sichere Situation im Mittelstandbereich kann sich schnell in Richtung Armut wandeln, wenn einer aus der Familie arbeitslos wird.

Susanne Kohlmeyer: Der Umgang mit dem Thema ist insgesamt rauer geworden. Die Krisen und Entwicklungen der vergangenen Jahre führen dazu, dass viele nach einfachen Antworten suchen, wo Probleme immer komplexer werden. Und es fehlt zunehmend an Begleitung oder Förderung, Menschen zu begleiten, um sie aus der Armut rauszuholen. Das verfestigt sich. Ich sehe da auch eine gewisse Resignation. Es scheint, als finde unsere Gesellschaft sich damit ab, dass ein Teil abgehängt ist.

Deshalb ist es eine Aufgabe als Armutskonferenz, darauf hinzuweisen, dass sich eine solche Entwicklung auf die gesamte Lebensqualität in der Stadt auswirkt, wenn es uns nicht gelingt, das gute Miteinander, das wir bisher vielleicht als selbstverständlich angesehen haben, mit in die Zukunft zu nehmen.

In Gütersloh gibt es ein gutes Netzwerk von Hilfen und Beratungsangeboten, nicht zuletzt mit dem Ziel, Teilhabe zu ermöglichen und Einsamkeit zu verhindern. Das reicht nicht aus?

Susanne Kohlmeyer: Ja, es gibt hier große fachlich vernetzte Kompetenz und eine große Bereitschaft Ehrenamtlicher, Lücken zu füllen, Familien durch praktische Hilfe zu unterstützen. Aber wir müssen einerseits aufpassen, dass wir diejenigen nicht ausbrennen, denn das ist ja kein Selbstläufer.

Volker Brüggenjürgen:  Der andere Punkt ist, dass der Sozialstaat nicht so aufgebaut sein sollte, dass Ehrenamtliche die Existenzbedürfnisse von Menschen befriedigen müssen. Die ehrenamtliche Arbeit darf nicht der Ersatz sein für die Anerkennung legitimer Ansprüche.

Das eine ist die Ursachenforschung und die Analyse. Aber wo sind Lösungen?

Volker Brüggenjürgen: Im Netzwerk der Armutskonferenz haben wir lernen müssen, dass die finanzielle Seite nur ein Teil Problematik ist. Ebenso essenziell ist – wie gesagt – die mangelnde Teilhabe. Denn die führt zur Isolation. Wir brauchen Orte in Gütersloh, an denen Begegnung unabhängig von materiellen Voraussetzungen möglich ist. Das ist ein wesentlicher Teil von Armutsprävention, eine Maßnahme gegen Ausgrenzung.

Aus unserer Beratung ist ein Beispiel die Mutter, die erzählt, dass sie gern mal irgendwo in der Stadt Kaffee trinken würde, sich das aber einspart. Die Folge: Egal wo sie ist, sie ist im Grunde ausgeschlossen.

Es gibt doch Angebote verschiedener Träger? Caféangebote beispielsweise.

Susanne Kohlmeyer: Das ist wichtig, aber sie ersetzen nicht eine zentrale Begegnungsstätte. Diese Orte müssen prominent sein, mitten in der Gesellschaft stattfinden. Ein Beispiel ist der Erfolg der Vesperkirche. Unterschiedliche Menschen sind gemeinsam an einer Stelle, sitzen sich gegenüber, kommen miteinander ins Gespräch.

Volker Brüggenjürgen: Beratungs- und Begegnungsangebote in den Stadtteilen und den Sozialräumen, eben diese niederschwelligen Treffpunkte sind notwendig, um Menschen unkompliziert zusammenzubringen. Das können Räume in der Schule oder in der Bibliothek sein. Wir sehen da auch einen kommunalen Auftrag. Es muss auch aus der Perspektive von Politik und Verwaltung deutlich werden: Das ist uns wichtig, das unterstützen wir.

Das Begegnungszentrum, das gerade im Zentrum von Blankenhagen entsteht, kann so etwas sein?

Susanne Kohlmeyer: Zumindest ist das ein struktureller Ansatz, der auch inhaltlich ausgekleidet ist. Orte funktionieren nicht, nur weil man sie baulich geschaffen hat. Das muss begleitet und konzeptionell untermauert sein.

Und über die Schaffung von Orten hinaus – was ist zu tun?

Volker Brüggenjürgen: Teilhabe, Teilhabe, Teilhabe mit allem, was dazu beiträgt, und die Verbesserung von Bildungschancen.

Susanne Kohlmeyer: Die Kindergrundsicherung wieder thematisieren. Die Stärkung von Kindern ist ein entscheidender Faktor. Wenn wir da einen Anker setzen können, vorgezeichnete Wege in eine andere Richtung zu lenken, wäre das für die Gesamtgesellschaft mindestens hilfreich, wenn nicht notwendig.

Kontakt: Susanne.kohlmeyer@ash-gt.de
Volker.brueggenjuergen@caritas-gt.de

INFO

Armutskonferenz Gütersloh

Die Gütersloher Armutskonferenz wurde im Juli 2017 gegründet mit dem Ziel, die Armut in der Region sichtbar zu machen und ihr ein menschliches Gesicht zu geben. Inzwischen zählt sie mehr als 50 Mitglieder aus verschiedenen örtlichen Institutionen wie Wohlfahrtsverbänden, Parteien, Kirchen, Schulen, lokalen Vereinen und Sozialdienstleistern.

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Seit 2023 veranstaltet die Gütersloher Armutskonferenz jährlich am 17. Oktober anlässlich des Internationalen Tages für die Beseitigung der Armut eine „Armutsradtour“ durch das Stadtgebiet und besucht dabei verschiedene Orte und Institutionen, die sich mit der Beseitigung von Armut in Gütersloh beschäftigen. Damit will die Armutskonferenz die verschiedenen Seiten von Armut vor Ort sichtbar machen und auch der breit aufgestellten Armutshilfe ein Gesicht und eine Stimme geben. Stationen der Radtour sind in diesem Jahr die ash an der Vollrath-Müller-Straße und das Deutsche Rote Kreuz Gütersloh.Abschluss ist um 13 Uhr mit Eintopf von der Suppenküche auf dem Berliner Platz.


Fotos: Susanne Zimmermann

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