„Demenz ist nichts für Feiglinge“
Rainer Heydenreich lebt mit Demenz – und macht anderen Mut
Die Diagnose Demenz stellte das Leben von Rainer Heydenreich auf den Kopf. Doch statt sich zurückzuziehen, geht der Hamburger offen mit seiner Erkrankung um. In Vorträgen und im Podcast Hello Heroes der Gütersloherin Anuschka Bayer spricht er über Scham, Wertschätzung und das Jetzt. Seine Botschaft: Demenz bedeutet nicht das Ende – sondern einen neuen Blick aufs Leben.
Rainer Heydenreich ist ein Mann mit klarer Haltung, einem wachen Geist – und einem beeindruckenden Lebenslauf. Jahrzehntelang war der Hamburger Leiter einer Bank, gewohnt an Verantwortung, Struktur und tägliche Entscheidungen mit Tragweite. Ein erfolgreicher Mann, vierfacher Vater, siebenfacher Großvater, der sich nach seinem Ruhestand auf Reisen mit seiner Frau, gemeinsame Kochabende und das Tanzen freute.
Doch es kam anders.
Kurz nach dem Abschied aus dem Berufsleben bemerkte er erste Aussetzer. Kleinigkeiten – Namen, Schlüssel, Verabredungen. Was viele mit dem Alter abtun, wurde bei ihm zu einem beunruhigenden Dauerzustand. Drei Jahre später die Diagnose: Demenz.
Was folgt, ist zunächst ein tiefer Fall. „Ich war völlig verzweifelt“, erinnert sich Heydenreich. „Gute Bekannte, die ich für Freunde gehalten hatte, zogen sich zurück.“ Auch medizinisch fühlt er sich alleingelassen. „Ich bekam keinerlei Hilfe, wie ich mit der Krankheit umgehen soll – nur Medikamente.“
Doch der Wendepunkt kommt. Ein Psychiater ermutigt ihn, selbst Verantwortung zu übernehmen. Heydenreich beginnt, sich gesünder zu ernähren, sich mehr zu bewegen, auf Alkohol zu verzichten – und vor allem: zu sprechen. Über das, was ist. Was bleibt. Und was möglich ist.
„Demenz ist nichts für Feiglinge, aber kein Grund aufzugeben“, sagt er heute. In Podcasts, bei Vorträgen und Interviews wird er zu einer Stimme für die, die oft keine haben. So auch im Gütersloher Podcast Hello Heroes von Anuschka Bayer. In der Folge mit Heydenreich wird spürbar, wie viel Kraft und Klarheit in einem Leben mit Demenz möglich sind – wenn man es annimmt. „Ich habe mich von den Vorbehalten gegenüber meiner Einschränkung befreit“, sagt er dort. „Und nutze die Zeit, um intensive Gespräche zu führen und habe eine sensiblere Wahrnehmung.“
Sein Ziel: Mut machen. Stigmata abbauen. Angehörigen und Betroffenen gleichermaßen Orientierung geben. „Weil ich selbst Demenz habe, kommen meine Erfahrungen glaubwürdig an“, so Heydenreich.
Besonders am Herzen liegt ihm der Blick auf die Rolle der Angehörigen. „Sie wissen oft gar nicht, wie wichtig sie für das Zusammenleben mit einem Demenzkranken sind. Viele sind unsicher, nehmen einen nicht mehr ernst – und entmündigen damit unbewusst.“ Dabei seien Menschen mit Demenz „auf Wertschätzung angewiesen – und darauf, dass ihnen ein Lebenswert zugesprochen wird.“
In seiner eigenen Familie gelingt das vorbildlich. Gemeinsam lebt er mit seiner Frau, einem seiner Söhne und dessen Familie in einem Haus. Seine Frau, sagt er, sei keine Samariterin – und genau das sei das Wertvolle. „Sie bemuttert mich nicht und gibt mir nicht das Gefühl, krank zu sein.“ Auch seine vier Söhne stärken ihm den Rücken. „Papa, du bist nicht dement“, sagen sie. Und seine Enkel, zwischen zwei und 14 Jahren, behandeln ihn selbstverständlich wie immer.
Trotzdem gibt es traurige Momente. „Ich fühle oft eine tiefe Traurigkeit, weil ein Großteil der Vergangenheit nicht mehr existent ist“, sagt er. Ein Sohn digitalisierte deshalb alle Familienfotos. „Ich weiß, dass mein Leben gut war – aber ich kenne es nicht im Detail.“ Und dennoch: „Ich komme im Hier und Jetzt gut klar.“
Das „Hier und Jetzt“ ist auch sein Lebensmotto geworden. In der Alzheimer Gesellschaft Hamburg trifft er sich regelmäßig mit anderen Betroffenen, trainiert spielerisch das Gedächtnis, löst Rätsel, sortiert Begriffe. „Da fühlen wir uns ohne Vorbehalte wohl.“ Seine Krankheit sieht er heute differenzierter. „Meine Lebensqualität hat sich verbessert. Ich bin fitter als früher. Ich pflege intensivere Beziehungen und führe interessantere Gespräche.“
Er betont: „Demente verfügen durchaus noch über Empathie und Verstand – sie müssen nur gefördert werden.“ Was er sich von der Gesellschaft wünscht, ist weniger Mitleid – und mehr Begegnung auf Augenhöhe.
Und so wird Rainer Heydenreich zu dem, was man sich in Zeiten einer alternden Gesellschaft häufiger wünscht: ein Mutmacher, ein Aufklärer, ein Mensch, der trotz Krankheit mitten im Leben steht.
„Ich kann zwar nicht zurückschauen“, sagt er, „aber nach vorne geht’s ganz gut.“
Infobox:
Die Podcast-Folge mit Rainer Heydenreich ist Teil der Reihe Hello Heroes von Anuschka Bayer aus Gütersloh. In ihrem Format spricht sie mit Menschen, die trotz Krankheit, Behinderung oder Schicksalsschlägen mitten im Leben stehen – ehrlich, empathisch und inspirierend.
Link zur Folge: https://open.spotify.com/episode/6mt2tgiJW3uF9EqMDuyXi1?si=3VtgoauiRMWiyv6-tuhY4g
Foto: Rainer Heydenreich privat