Das letzte Stadtblatt kommt aus Gütersloh

Autor: gt!nfo

Fotos: Martin Qulitz

25.01.2023

Als ich in den 1980er-Jahren am Schalter im Münchener Hauptbahnhof ein Zugticket nach Gütersloh kaufen wollte, sagte der Bahnmitarbeiter mit einem süffisanten Lächeln im tiefsten Bayrisch „Ah, wohl der letzte Cowboy – oder was?" Dieser Ohrwurm von Thommie Bayer aus dem Jahr 1979 hat die Dalke-Stadt auch südlich des Weißwurst-Äquators bekannt gemacht. Dass sich gerade ein bayrischer Südstaatler über Gütersloh als Rückzugsort des letzten Cowboys in der Prärie lustig machte, wo für uns doch die Seppln in Lederhosen die letzten Hinterwäldler symbolisierten, fand damals wiederum ich erheiternd.

Gütersloh hatte in den 70er-Jahren in einer Statistik der lebenswertesten Städte Deutschlands den vorletzten Platz belegt. Noch schlimmer war es laut der Umfrage nur in Lüdenscheid. Dabei gab es dort zumindest Mittelgebirge rund ums wenig ansehnliche Nest.

Gut, dass der humorige bajuwarische Bahnmitarbeiter zumindest diese Statistik nicht kannte. Wahrscheinlich hätte er mich reisenden Saupreuß sonst auf suizidale Tendenzen hin überprüft. Gütersloh galt in jener Zeit vielen als Sinnbild einer langweiligen Provinzstadt und das, obwohl hier die besten Waschmaschinen der Republik genauso wie die bundesweit bekannten Bücherclubs ihren Ursprung hatten. Was Auswärtige nicht wussten, Gütersloh war schon damals eine Kulturmetropole, im Rahmen der städtischen Möglichkeiten. Dschingis Khan waren 1980 für einen Spontan-Besuch mit Autogrammstunde nicht auf Wildpferden aus der Mongolei angereist, sondern ganz profan mit einem Hubschrauber aus München auf einem Gütersloher Sportplatz gelandet.

Wo der letzte Cowboy wohnte, durfte auch der letzte große mongolische Khagan nicht fehlen. In den frühen 80ern ließ es sich später in der Alten Weberei herrlich zu New Wave bei der Zappelfete abhotten. Die Tanzveranstaltung war so beliebt, dass selbst aus der Weltstadt Bielefeld urbane Schönheiten zum Tanzen anreisten, was von der jungen männlichen Landbevölkerung nicht selten für unbeholfene Balzversuche genutzt wurde. Saturday Night Fever fand hier mittwochs statt. Mitte der 80er machte ich dort meine ersten Bühnenerfahrungen als Moderator der „Qui-Show“. Ein bunter Abend à la Bios Bahnhof nur halt für heterosexuelle Landeier und soziokulturell bewegte Gütersloher. Was mit 150 Gästen im überfüllten Jugendbereich begann, ging dann im großen Saal mit Bands und Kabarett aus der Region sowie den ersten „Fake-Talks“ mit vermeintlich buchbaren Stimmungsmachern, die träge ostwestfälische Silberhochzeiten auf Vordermann bringen und angeblichen Weißkünstlern, die ausschließlich weiße gerahmte Leinwände ausstellten, weiter und endete mit der Abschluss-Show in der Stadthalle u.a. mit Peter Rüchel, dem Macher des WDR-Rockpalasts. Meine Joe Cocker-Parodie erblickte in der Weberei am 26. April 1986 das Licht der Bühnenwelt. Ein historisches Datum nicht nur für mich, da sich an diesem Tag das Reaktor-Unglück von Tschernobyl ereignete. Meine kleine Hommage an den großen Sänger versah dieses Ereignis mit einer solchen Ausstrahlung, dass ich sie bis heute rund 2000-mal auf der halben Welt gespielt habe, vom Glastonburyfestival in England bis zu einem Empfang auf Schloß Fontainebleau, vom Humor-Festival in 2000 Meter  Höhe in Arosa bis hin zum Kulturprogramm der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona und auch abends in einem Varieté-Zelt des Bremer Parkhotels, wo ich morgens mit Joe Cocker persönlich am Frühstückstisch saß.

Aldo Negri, der schon für Onassis auf seiner Yacht Cocktails gemixt hatte und an dessen Bar die Rolling Stones, Fleetwood Mac und Rod Stewart nach ihren Konzerten noch diverse Absacker zu sich nahmen, bevor sie sich in den Schlaf koksten, adelte Mitte der 80er-Jahre die Bar im Parkhotel. Auch wenn es zwischen den Gästen dort und dem Publikum der „Alten Weberei“ keine Schnittmenge gab, kam er zu mir als Gesprächsgast in die Show. Ebenso ein polnischer Sozialarbeiter, der weniger wegen seiner Arbeit im Jugendzentrum als vielmehr durch seine Leidenschaft für die Jazzmusik weit über Ostwestfalen hinaus bekannt war. Unvergessen blieb Josef Honcias Verlesen des Tourneeplans von Miles Davis vor seinem Konzert in der Stadthalle. „London, Amsterdam, Kopenhagen und ... (Kunstpause) … Gütersloh", die lokalpatriotische Ekstase wollte kein Ende nehmen. Ihm habe ich es zu verdanken, Miles Davis gleich zweimal sowie alle Größen der Jazzwelt in seiner Konzertreihe schon als junger Mensch live erleben zu können. Den großen Jazztrompeter Lester Bowie sah ich gleich fünfmal, und Josef lud mich nach dem Konzert auch noch zum Essen mit Bowie und seiner Brass Fantasy ein. All das wohlgemerkt in einer vermeintlich langweilen Provinzstadt, in der man durch das Abo des Jugendkulturrings für 4 bis 5 Mark pro Veranstaltung neben Theater und Kabarett auch noch Herbert Grönemeyer oder die Münchener Freiheit erleben konnte. Welche andere Stadt dieser Größe hatte ein derart vielfältiges Kulturprogramm zu bieten? Für mich war dies der Humus, auf dem mein persönliches Kulturjunkietum gedieh, was mir später die Berufswahl ermöglichte: die Grundausbildung in Gütersloh, der Feinschliff auf Berliner Bühnen. In Gütersloh konnte ich auch mein erstes längeres Interview mit dem Schriftsteller Walter Kempowski führen, dessen Bücher „Tadellöser & Wolff“ und „Uns geht's ja noch gold" ich begeistert verschlungen hatte. Hier mit 18 für Tageszeitungen schreiben und ein eigenes Musikmagazin namens „Rogue“ herausbringen zu können, war etwas, was mir in Berlin wohl nicht so leicht geglückt wäre. Es weckte meine journalistischen Ambitionen, was später im Publizistikstudium mündete. Auch das politische Interesse wurde hier geweckt.

Viele bundesweit bekannte Politiker hielten hier Reden auch außerhalb von Wahlkämpfen. Im März 1992 war selbst Michail Gorbatschow in Gütersloh zu Gast … Die Bertelsmänner machten es möglich. Diese Stadt und ihr Kulturleben hat so manchen Einheimischen für höhere Aufgaben in der Hauptstadt vorbereitet nach dem Motto „Westfalen weltweit“. Frank Briegmann, der eine Klasse unter mir auf der Schule war, wurde Chef der größten Plattenfirma Europas „Universal“ und der „Deutschen Grammophon“ in Berlin. 

Oliver Welkes Geschichte kennt jeder, die von René Rennefeld, Schlagzeuger, der Mitte der 80er einige Zeit überm „Piano“ wohnte wenige. Ihn traf ich vor 20 Jahren bei meinem Künstlerstammtisch „Kreativpause“ in Berlin. Er war mittlerweile Chef der berühmten Hansa Studios, in denen unter anderem Bowie, U2 und R.E.M. Alben aufgenommen haben. Die Produktion des Welthits „Mambo No. 5“ hatte ihm dies ermöglicht: 14 Millionen verkaufte Platten. Die Goldenen und Platin Platten dafür durfte ich bei einer privaten Führung im Studio bewundern.

Ralph Brinkhaus, zwei Klassen unter mir auf der Schule, war als Fraktionsvorsitzender der CDU seit 2018 plötzlich regelmäßig in den Tagesthemen zu sehen. Nachdem er bei seiner Wahl den Merkel-Intimus Volker Kauder geschlagen hatte und von Caren Miosga deswegen gefragt wurde, ob das eine Palastrevolution sei, antwortete er: „Ostwestfalen machen keine Revolution, die sorgen höchstens für frischen Wind.“ Als ich Thommie Bayer vor einigen Jahren nach seinem persönlichen Bezug zu Gütersloh befragte, musste er mich enttäuschen. Der Schwabe kannte die Stadt damals gar nicht, hatte nur einen Namen gebraucht, der sich auf „sucht die Freiheit irgendwo“ reimte. Es hätte also auch Wadersloh werden können. Wie frisch der Wind dort ist, lässt sich nur vermuten.


Bei gt!nfo ist der Name nicht austauschbar. Seit 1976 begleitet sie das gesellschaftliche, politische und kulturelle Leben dieser Stadt, die schon allein wegen der „neuen“ Weberei und eines hochmodernen Theaters, die beide auch das Berliner Kulturleben schmücken würden, heute einige Plätze gegenüber Lüdenscheid gut gemacht hat. Dazu habt auch Ihr beigetragen. Herzlichen Glückwunsch!

 

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