Gütersloh ist ein bisschen wie Bedford Fall

Autor: gt!nfo

27.12.2022

Der Weihnachtsengel für den „Weltkugelabschnitt Gütersloh und Umgebung“ schwebt über den Dingen und blickt auf unsere Stadt

 

Interview: Susanne Zimmermann

 

Wir treffen uns auf der Dalkeinsel im Stadtpark. W.E. hat den Treffpunkt ausgewählt. Ich war ein wenig überrascht, weil ich angenommen hatte, dass W.E. eine der Gütersloher Kirchen vorschlagen würde. „Wir bevorzugen grundsätzlich Orte in der Natur, denn wir sind nicht konfessionsgebunden,“ erklärt dagegen mein Gesprächspartner. Wir lassen uns auf einer der Ruheliegen nieder, das heißt ich liege. W.E. schwebt ein paar Zentimeter über dem Boden, denn W.E. ist ein Weihnachtsengel – als solcher zuständig für den „Weltkugelabschnitt Gütersloh und Umgebung.“ An einem stillem Dezemberabend hat er spontan für ein Interview zugesagt. Sein korrekter Name ist eine 33330-stellige Kombination aus allen Buchstaben dieser Welt. Ich darf ihn aber W.E. nennen, und wir haben uns auf das Du geeinigt.

 

Lieber W.E., eine grundsätzliche Frage: Ihr Weihnachtsengel werdet ja sehr unterschiedlich dargestellt. Seid ihr männlich, weiblich, divers, trans?

 

W.E.: Eine Frage, die sich uns nicht stellt. Wir sind „ich“ und wir sind „es“. So gesehen sind wir natürlich divers. 

 

Und was genau sind die Aufgaben eines Weihnachtsengels?

 

W.E.: Klingt jetzt etwas pathetisch, aber wir sind vor allem dazu da, dem Weihnachtsfest seinen Sinn und seine Bedeutung wiederzugeben.

 

Also seid ihr nicht die Gehilf*innen des Weihnachtsmanns?

 

W.E.: Ich bitte dich…

 

Weihnachtsengel sein ist also eine Ganzjahres-Aufgabe?

 

W.E.: Eine Jahrtausend-Aufgabe, wenn man in euren Zeithorizonten denkt. Allerdings ist die Eingrenzung des Begriffs auf  „Weihnachten“ eher eine menschliche Marketing-Idee. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Menschen Schutz, Hoffnung und Zuversicht zu geben. Unser Hauptjob ist es, Schutzengel zu sein.

 

Das ist nicht einfach in diesen Zeiten.

 

W.E.: Das ist richtig, wenngleich es hier in dem Weltkugelabschnitt, für den ich zuständig bin, noch einigermaßen leistbar ist. Die Kolleg*innen aus anderen Zuständigkeitsbereichen kommen da langsam an Grenzen. Kriege, Menschen auf der Flucht, Kinder, die sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, Kranke, die nicht geheilt werden können, weil Medikamente fehlen. Landschaften, die zu Wüsten werden, weil die ausgebeutete Erde immer heißer wird…Da benötigt man selbst als Engel noch regelmäßig ein Coaching, damit man nicht aufgibt.

 

Aber dein Engel-Arbeitsgebiet ist das Lokale? – Wie würdest du hier im Weltkugelabschnitt Gütersloh und Umgebung die aktuellen Herausforderungen beschreiben?

 

W.E.: Also, ich mache die Arbeit hier schon seit einigen Jahrhunderten, und ich mache sie noch immer gern. So langsam erkenne ich, wie ihr hier so tickt. Das macht es einfacher, vorausschauend zu arbeiten – das A und O im Schutzengel-Dienst. Ich kann zum Beispiel davon ausgehen, dass Neues immer erst mit einer gewissen Skepsis und abwartend und kritisch betrachtet wird. Das nervt manchmal, denn als Engel will man ja auch jubilieren. Aber das heißt auch, dass ihr nachdenkt, bevor ihr handelt. Und ich weiß, dass man sich auf euch verlassen kann.

 

 

Hast du Beispiele?

 

W.E.: Wie ihr die Aufnahme von Geflüchteten organisiert habt, das find ich schon gut. Damit meine ich nicht nur die Arbeit derjenigen, die von Amts wegen dafür verantwortlich sind, sondern die Hilfsbereitschaft der Menschen hier generell. Das hat mir schon 2015 imponiert, und das war auch jetzt wieder so, als die Vertriebenen aus der Ukraine kamen. Das macht die Schutzengel-Arbeit doch sehr angenehm. Corona ist ein anderes Beispiel. Ich hatte immer das Gefühl, dass alle Verantwortlichen,  aber auch die Gütersloher und Gütersloherinnen selbst sehr sachlich und solidarisch mit dieser schwierigen Situation umgegangen sind – auch als ihr im Sommer 2020 quasi zum Weltkrisengebiet erklärt wurdet.

 

Und die aktuelle Situation? Energiekosten, Ängste vor einem Blackout, Haushaltsdefizite …

 

W.E.:  Zugegeben, alles gerade nicht förderlich für eine positive Grundstimmung. Das gilt ja nicht nur für den Weltkugelabschnitt Gütersloh. Aber wenn ich die Jahrhunderte so überblicke, bin ich nach wie vor zuversichtlich, dass ihr besonnen und mit der euch eigenen Sachlichkeit und Energie handelt. Mit diesen Eigenschaften seid ihr ja schließlich vom Dorf zur Großstadt geworden. Und ihr habt hier übrigens eine Menge junger Menschen, die bereit sind, für ihre Zukunft und für die Zukunft der nächsten Generationen auf die Straße zu gehen und zu handeln. Dass sie nicht resignieren und zuversichtlich bleiben, ist zurzeit einer meiner Arbeitsschwerpunkte.

 

Du sagst, du weißt so langsam, wie wir ticken. Was findest du denn besonders kurios?

 

W.E.: Wie ihr euch immer so über alles aufregt! Manchmal denke ich, man kann es euch einfach niemals recht machen, irgendwer findet immer irgendein Haar in der Suppe. Aber wenn man so über den Dingen schwebt wie ich, weiß man, dass ihr eure Stadt eigentlich ganz schön lieb habt und dass ihr niemals woanders leben möchtet.

 

Woran machst du das denn fest?

 

Schaut euch doch mal selbst zu an einem Sommerabend auf dem Dreiecksplatz, beim Weinfest, beim Kinderfest vor dem Theater, bei Gütersloh international, beim Trödelmarkt in Isselhorst oder bei der Disco-Nacht in der Innenstadt. Beim Gütersloher Sommer, beim Weihnachtsmarkt rund um die Apostelkirche oder bei einer Ü-was-weiß-ich-Party in der Weberei. Beim Radeln entlang der Dalke oder beim Bier im Parkbad mit den Füßen im Wasser. Beim Fußball im Heidewald oder beim Dalkelauf. Oder, oder…Da seid ihr doch ganz bei euch. Und dann fallen mir immer wieder Menschen auf, die aus Gütersloh weg sind, aber dann nach einigen Jahren wieder zurück kommen. Oder diejenigen, die hier nur Zwischenstation in ihrem Leben machen wollen, aber dann ein Leben lang gern hier „hängen“ bleiben. Hab ich alles in meiner Kartei. Wenn das keine Liebe ist, was dann?

 

Gut beobachtet, denke ich. Aber zurück zu Weihnachten: Wie sieht hier – besonders in diesem Jahr – deine persönliche To-do-Liste aus?

 

W.E.:  Weißt du, ich gönn euch ja, dass ihr nach den ganzen Lockdowns  gemeinsam wieder Glühwein trinkt, dass ihr auf Schnäppchenjagd für den Gabentisch geht, dass ihr euch bei Betriebsweihnachtsfeiern um die Tische knubbelig und dass ihr „Last-Christmas“ in Dauerschleife hört. Mein persönlicher Arbeitsschwerpunkt richtet sich eher darauf, dass die Menschen, die allein sind, nicht einsam bleiben, dass die Menschen ohne Zuhause nicht frieren müssen, und dass Kinderaugen nicht nur im Schein eines Smartphones leuchten. Ganz allein krieg ich das aber  nicht hin, da brauche ich schon eure Unterstützung – indem ihr euch nicht abschottet unterm Weihnachtsbaum, indem ihr Päckchen packt für diejenigen, die sonst nichts bekommen, und indem ihr ein bisschen Goldstaub auf die Kinderseelen pustet…

 

Wie jetzt: Goldstaub auf Kinderseelen?

 

W.E.: Sorry, das ist so ein Bild aus unseren Fortbildungs-Workshops. Steht dafür, dass es zu Weihnachten noch etwas anderes gibt zwischen Himmel und Erde als Geschenke. Ein anderes Bild ist das Glöckchen am Baum, das bimmelt, wenn ein Hilfsengel sich Flügel verdient hat. Das wird in einem alten Film verwendet, der bei euch zu Weihnachten manchmal noch gezeigt wird. Der heißt: „Ist das Leben nicht schön?“ und handelt davon, dass jeder einzelne Mensch  einzigartig ist in seinem Leben und in seiner Stadt. Der Film spielt in einer Provinzstadt namens Bedford Falls und die Hauptfigur will immer weg von da in die weite Welt, bis ein Engel namens Clarence ihm zeigt, wie wichtig er für seine Mitmenschen ist. Obwohl aus den Vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und in schwarz-weiß, gehört er nach wie vor zum Standard-Ausbildungsprogramm für unsere lokal tätigen Engel. Gibt es bestimmt auch zum Download, denke ich. Ich sehe ihn mir auch immer wieder mal an, denn ich finde, Gütersloh ist ein bisschen Bedford Falls. 

 

Danke für den Tipp und besinnliche Weihnachten.

 

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