Anders denken!

Markus Corsmeyer

Autor: Markus Corsmeyer

Fotos: Detlef Güthenke

01.12.2022


Professor Dr. Rolf Wischnath, Theologe und ehemaliger Generalsuperintendent, hielt am Volkstrauertag die Hauptansprache am Gräberfeld für getötete Soldaten und Zivilisten auf dem Friedhof „Unter den Ulmen“. Die Veranstaltung stand im Schatten des Ukraine-Kriegs. Die bemerkenswerte Gedenkrede löste heftige Reaktionen unter anderem bei führenden FDP-Politikern aus. Markus Corsmeyer traf sich zum Exklusiv-Interview mit Professor Dr. Rolf Wischnath.


Eine unverschämte und ehrverletzende Ansprache hätten Sie gehalten, so FDP-Politiker Sascha Priebe? Was entgegnen Sie ihm?

Lieber Herr Priebe, waren Sie bei der Volkstrauertagsfeier überhaupt dabei? Haben Sie meine Rede gehört? Haben Sie mit mir gesprochen? Haben Sie mein Manuskript gelesen? Warum erfinden Sie etwas, was ich gar nicht gesagt habe? Warum arbeiten Sie mit einer Fälschung? Ist das die Methode der FDP-Gütersloh?


Harter Tobak! Wo ist im FDP-Brief eine Fälschung zu finden?

Es wird in dem Brief der folgende Satz in Anführungszeichen als angebliches Zitat aus meiner Rede angeführt: „Es ist besser, unter Terror und Unterdrückung zu leben als einen Krieg zu führen.“ Das wäre mein Originalton gewesen. So die Behauptung. Vor allem auf Grund dieses Zitates werde ich von Kritikern scharf angegangen – bis hin zur Aufforderung, ich solle mich an die Ostfront begeben. Wegen dieses Satzes nennt die FDP meine Rede „freiheitsverachtend“ und „geschmacklos“ und bezeichnet sie als „unverschämt“ und „ehrverletzend“, uneuropäisch. Geht’s noch? Nur, der als Zitat angeführte, verhängnisvolle Satz ist eine reine Unwahrheit und Erfindung der FDP. Ich habe ihn nicht gesagt. Er trifft auch nicht meine Meinung. Fake.


In einem offenen Brief an den Bürgermeister verlangt Herr Priebe, Sie nicht mehr zu Veranstaltungen einzuladen. Das ist ein klares Denkverbot. Was antworten Sie ihm?

Maulkorbpartei. - Also, ich war ja als „Generalsuperintendent“ – das ist in Brandenburg der Regionalbischof – etliche Jahre in diesem Gebiet der untergegangenen DDR zuständig. Da musste ich dauernd öffentliche Reden halten. Diese Reden waren wiederholt auch gegen die alten SED-Genossen gerichtet. Die haben sich das zähneknirschend angehört. Nicht ein einziges Mal ist mir in Brandenburg von Irgendjemandem das Recht der öffentlichen Rede abgesprochen und ein Denkverbot gefordert worden. - Güterslohs FDP schenkt mir eine neue Erfahrung.


Wie beurteilen Sie das Demokratieverständnis einiger FDP-Politiker, die von Herrn Morkes fordern, Sie als Redner zukünftig nicht mehr einzusetzen?

Ich verrate Ihnen mal was: Ich war selber in den sechziger Jahren als „Jungdemokrat“ Mitglied der FDP Gütersloh. In der Zeit der großen Koalition war die F.D.P. – sie schrieb sich damals noch mit drei Punkten – eine qualifizierte Opposition mit Persönlichkeiten. Dazu zählen der Soziologe Ralf Dahrendorf, FDP-Generalssekretär Karl Hermann Flach, oder Hildegard Hamm-Brüche. Das waren harte Köpfe. Reicht die heutige FDP an die heran? Kann die Gütersloher FDP denen das Wasser reichen? Heute bin ich einmal mehr der Meinung: Es war genau richtig, dass ich diese Partei recht bald wieder verlassen habe.


Sind Sie in einer Partei?

Ja, in der SPD seit 1971. Also seit 51 Jahren.


Haben die hiesigen Sozialdemokraten im Streit um ihre Rede zu ihnen gehalten?

Nein. Möglicherweise haben die in ihrer Selbstbezogenheit nichts mitbekommen. Der charaktervolle Sozialdemokrat Thomas Ostermann allerdings hat einen stärkenden Brief geschrieben. Annette Kornblum hat sich kritisch geäußert. Die CDU in Gütersloh hat auch geschwiegen. Das ist bemerkenswert: Die hiesigen Christdemokratinnen und Christdemokraten haben gewiss sehr, sehr viel Kritik an mir und meinem Pazifismus. Aber sie haben sich an den öffentlichen Verwünschungen nicht beteiligt. Gerne würde ich mit ihnen ein Gespräch führen.


Sie werden aktuell nach Ihrer Rede massiv in der Öffentlichkeit angegriffen. Haben Sie sich in Gütersloh eine andere Reaktion auf Ihre Rede gewünscht?

„Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“ (Helmut Schmidt). Darum ist der Streit gut. Und ich respektiere Kritik. Manche Kritik trifft zu. Ich hätte beispielsweise nicht von den russischen „Jungens“ sprechen sollen. Die bei der Mobilisierung eingezogenen jungen Männer, denen ein beträchtliches Stück ihrer Lebenszeit geraubt wird, die in höchster Lebensgefahr stehen und von denen tausende schon umgebracht worden sind, hätten von mir respektvoller benannt werden müssen.


Erwarten Sie in dieser Angelegenheit eine klare Positionierung unseres Bürgermeister Nobert Morkes?

Ja. Der „offene Brief“ der FDP verdient eine „offene Antwort“, zumal unser Bürgermeister meiner Rede zugehört und sich überhaupt nicht beschwert hat.


Wieso lädt er auf seinem offiziellen Dienstpapier zusammen mit Ihnen zur Feier am Volkstrauertag ein?

Die Volkstrauertagsfeier ist eine städtische Veranstaltung. Sie wird von der Dienststelle des Bürgermeisters vorbereitet, dann finanziert und durchgeführt. Frühzeitig setzt sich seine Beauftragte mit dem Beauftragten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Verbindung und fragt, ob er der vorgelegten Zielsetzung zustimmen könnte und noch andere Elemente der Feier vorschlagen wolle. Der dann konzipierte Verlauf der Feier wird dem Bürgermeister vorgelegt. Er entscheidet, was passiert. Auch über den „Hauptredner“. Und dann wird der Brief von ihm und dem Vertreter des Volksbundes auf einem gemeinsamen Briefbogen unterschrieben. So war das auch in diesem Jahr.


War das schon immer so?

Etwas anders: Mit Bürgermeisterin Maria Unger und Bürgermeister Henning Schulz jedenfalls gab es stets geradezu freundschaftliche Gespräche und Verabredungen.


Sie kennen sich ja mit den Gepflogenheiten des Volkstrauertags in Gütersloh ziemlich gut aus. Wie kommt das?

Mein Vater (*1912), war nach dem Krieg als Oberstleutnant a.D. Vorsitzender der Vereinigten Soldatenverbände in Gütersloh. Wegen der Gedenkfeiern am Volkstrauertag gab es in den fünfziger Jahren einen hanebüchenen Konflikt zwischen den Soldatenverbänden und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. In diesem unbesonnenen Streit zog die Stadt die Verantwortung für die Feier an sich, entschied sich als Ort für den „Ehrenfriedhof“ an der Pankratiuskirche und setzte sich hinsichtlich der Gestaltung mit dem Volksbund ins Benehmen.


Sie sind Pazifist, das heißt ein Mensch, der aus Überzeugung jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert. Wie ist es dazu gekommen?

Schon im Gütersloher Gymnasium (ESG) begegnete ich meinem Religionslehrer und Konfirmator Pfarrer Otfried Sander. Er war im Gesicht durch ein verwüstetes Auge vom Krieg gezeichnet. Er trug eine Augenprothese. Er hielt sich an den Aufruf Jesu zur Gewaltlosigkeit und Feindesliebe in der Bergpredigt. Darum war er Pazifist. Aber er überzeugte mich zunächst noch nicht. Einmal sagte er zu mir: „Du wirst es auch noch merken.“ Ich ging als Wehrpflichtiger zur Bundeswehr. Da habe ich es gemerkt: Meine 18 Monate bei der Artillerie in Augustdorf und Handorf (1967 bis 1969) waren die elendeste Zeit meines Lebens.


Mit welchen Waffen wurden Sie denn ausgebildet?

Vor allem mit der Panzerhaubitze M 109. Als Geschützführer mit fünf Kanonieren konnte ich diese Haubitze aus dem Effeff bedienen. Die M 109 gibt es mit Weiterentwicklungen immer noch. Und sie wird in der Ukraine eingesetzt. Sie ist eine Massenvernichtungswaffe. Auch durch diese Erfahrung festigte sich die pazifistische Überzeugung immer mehr. Otfried Sander hat Recht behalten.


Sprechen Sie mit ihrer Rede eigentlich dem ukrainischen Volk das Widerstandsrecht ab?

Wer bin ich, den Menschen in der Ukraine das Recht zum Widerstand zu bestreiten und ihnen Ratschläge zu geben, wie sie sich verteidigen sollen? Aber auch in der Ukraine und erst recht in Russland gibt es nicht wenige Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. So sie nicht im Gefängnis sind, ist auf ihre Stimme zu hören. Zusammen mit ihnen wäre zu sagen: Widerstand ja. Aber gewaltbegrenzend. Darum: Weniger Angriffswaffen. Mehr Defensivwaffen. Mehr humanitäre Unterstützung der Ukraine. Flüchtlinge aufnehmen. Mehr Geld dafür. Wirtschaftliche Sanktionen wie sie geschehen. Intensivste diplomatische Bemühungen. Feuerpause. Verhandlungen (auch mit Putin) Veränderungen mit gewaltlosen Mitteln (wie bei den friedlichen Revolutionen 1989 im Ostblock). Kirchliche Parteinahme. Verabscheuung des Moskauer Patriarchen der Orthodoxen Kirche und Kriegspredigers Kyrill I. Und für Christen (wie Luther einmal gesagt hat): „Man soll so beten, als ob alles Streiten nichts nützt. Und dann soll man so streiten, als ob Alles Beten nichts nützt.“


Haben Sie mit Ihrer Rede eine falsche Angst aufgebaut – und tragen Sie nicht eher zur Polarisierung unserer Gesellschaft bei?

Die wissenschaftlichen Atomforscher stellen dieser Tage die bekannte Uhr „Doomsday Clock“ für den Weltuntergang auf 100 Sekunden vor zwölf. Sie sagen: So nah an der Katastrophe war die Menschheit noch nie. Selbst Präsident Biden spricht vom drohenden „Armageddon“. Das ist die endzeitliche militärische Katastrophe, die zum Weltuntergang führt. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und uns nicht vertrösten mit einem „So schlimm wird’s doch nicht werden.“ Auch wenn es polarisiert. Aber trotzdem darf die Hoffnung nicht sterben. Es kommt heute meines Erachtens darauf an: „Bescheid wissen und doch nicht verzweifeln!“


Hätten die Alliierten im 2. Weltkrieg nicht in den Krieg eingegriffen, wo stünden wir heute? 

So etwas wird ein Pazifist immer gefragt. Die eine unwiderlegbare Antwort darauf gibt es nicht. Aber es darf wohl gesagt werden, dass ein legitimes und notwendiges Eingreifen und Kämpfen der Alliierten auch zu schlimmen Kriegsverbrechen geführt hat. Nur ein Beispiel: Als die Alliierten am 13. Februar 1945 ihre Bomben über Dresden abwarfen, kam es zum Inferno. Mehr als 25.000 Menschen starben. Darunter ungezählte Flüchtlinge. Die gänzliche Zerstörung Dresdens war militärisch völlig sinnlos und für den Sieg der Siegermächte ohne Belang. Das kann man von vielen zerstörten Städten sagen - auch von Gütersloh. War die Bombardierung der Apostelkirche und des Alten Kirchplatzes militärisch notwendig? Nein. Auch sie war ein Verbrechen. - Unzählige Verbrechen geschehen heute in der Ukraine. Das ist offensichtlich der Preis von Kriegen. Wie teuer darf dieser Krieg in der Ukraine noch werden? Schon jetzt sind mehr als 100.00 Soldaten auf jeder Seite hingerichtet worden. Und all die Zerstörungen! Wenn dieser Krieg nicht durch Feuerpausen und Friedensverhandlungen abgebrochen wird, kommt es zur Katastrophe, die uns alle betreffen wird.


Ist es nicht nur gefühllos, sondern sogar moralisch verwerflich, der Lieferung von Waffen an schuldlos Angegriffene zur Selbstverteidigung nicht nachzukommen?

Verwerflich ist es, die „schweren Waffen“ in ihrer ungeheuren und maßlosen Zerstörungskraft anzuwenden und mit der Bundestagsabgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann (auch FDP) immer mehr und immer mehr und immer mehr davon in die Ukraine zu transportieren. Das sind alles Massentötungsmaschinen. Die Mehrzahl dieser grausamen Waffen sind nicht defensiv (abwehrend), sondern offensiv (angreifend). Sie zerstören, was sie zu verteidigen vorgeben. „Krieg ist immer die schlechtere Alternative, sogar zum Erdulden von Unrecht und Gewalt“, habe ich gesagt. Der Bezug ist eindeutig: Der Satz bezieht sich auf die unbeschreiblichen Gewalttaten in der Ukraine.


Sind Sie sich ihrer Position gewiss?

Nicht immer. Professor Dr. Theodor Ebert (Berlin) – er war auch Mitglied unserer Kirchenleitung - hat die „Methode“ der Gewaltlosigkeit am intensivsten durchdacht. Er schreibt einmal – und das mache ich mir zu eigen: „Wir Pazifisten können nicht einfach behaupten, wir hätten für alle Probleme die gewaltfreie Lösung, aber es gibt hinlängliche Gründe, sie zu suchen, Ihnen nachzugehen und auf dem Wege der gewaltfreien Aktion die passenden Lösungen zu finden.“


Was ist ein Leitmotiv für Ihr Denken?

Im 16. Jahrhundert wurde der Reformator der Schweiz Ulrich Zwingli in einem Krieg vernichtet, gevierteilt – das heiß in Stücke zerhackt – und verbrannt. Er sagte einmal: „Nicht fürchten ist die Rüstung! Tut um Gotteswillen (!) etwas Tapferes!“


Das Manuskript der Rede von Rolf Wischnath ist auf der Internet-Seite der Ev. Kirchengemeinde Gütersloh zu finden:

https://www.ekgt.de/aktuelles-termine/aktuelles/gedenkrede-von-pfr-rolf-wischnath-am-volkstrauertag/


Rolf Wischnath. Geboren 1948. Aufgewachsen in Gütersloh. Volkeningschule und Ev. Stift. Gymnasium. Abitur 1967. Theologiestudium und Promotion. Ab 1980 Pfarrer in Soest, Mülheim und Berlin. Von 1995 bis 2004 Generalsuperintendent in Brandenburg. 2004 / 2005 Rückkehr nach Gütersloh. 1908 Ernennung zum Honorarprofessor für Systematische Theologie der Universität Bielefeld. Lehrauftrag in Bielefeld und Paderborn bis 2019. Seit 2005 als Nachfolger des Studiendirektors Rolf Fürtwängler Vorsitzender des VDK GT. Verheiratet drei Kinder, fünf Enkel.

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