Die längste Sommerpause der Stadt

Autor: Thorsten Wagner-Conert

Fotos: Thorsten Wagner-Conert

09.02.2024

Claus Wiemann gehört zum Team der Glöcknerinnen und Glöckner, die die Tradition des Nachtsanggeläuts aufrechterhalten.


Die längste Sommerpause der Stadt

 

Claus Wiemann ist ein Bilderbuch-Gütersloher: Verheiratet, drei erwachsene Söhne, ein eigenes Gartenparadies, Ehrenamtliches bis zum Abwinken, dann noch das Joggen und Schwimmen und der Job in der Sparkasse. Das klingt nach ausgefülltem, zufriedenem Leben. Sein Lieblingsplatz? Oben im Glockenturm der Martin-Luther-Kirche trifft Thorsten Wagner-Conert den Bänker – aus gutem Grund.

 

Text und Fotos: Thorsten Wagner-Conert

 

Zwischen Reformationstag am 31. Oktober und Mariä Lichtmeß am 2. Februar zieht es Claus Wiemann mittlerweile regelmäßig hierher – im Wechsel mit seinen drei Mitstreiterinnen und Mitstreitern oder auch gemeinsam. Der Mann ist einer der Hüter der wohl ältesten Gütersloher Tradition: „Das Glöcknern liegt mir mittlerweile sehr am Herzen. Wenn die Tradition einmal weg wäre, kommt sie in meinen Augen auch definitiv nicht wieder“, sagt der Kultur-Beschützer übers Nachtsanggeläut. Und weiter: „Die zweitälteste Tradition ist übrigens das Adventssingen in Gütersloh, aber die haben wohl auch echte Nachwuchssorgen. Viele Traditionen sind es nicht.“ Als er damals den Aufruf, Glöckner zu werden, mitbekam, hat er sich spontan bereiterklärt. Ein Glücksfall, denn seine Frau und seinen Sohn konnte er gleich auch dafür begeistern.

 

Mit der sprichwörtlich ewigen Glöcknerin Dr. Barbara Rohden – seit 50 Jahren macht sie das – wird die Formation zum Quartett. Nun sei man gut aufgestellt, aber für die Zukunft hofft Claus Wiemann: „Wenn sich noch ein, zwei Gütersloher bewogen fühlen: Jederzeit gerne.“

 

Es muss einfach Winter sein

 

In dieser Saison war’s ein lauer und nasser Winter. Wie wohl ist das Gefühl in einem richtigen Winter hier oben ist – so bei minus zehn, minus 15 Grad? Der Glöckner bleibt ganz gelassen: „Je kälter, desto schöner. Dann klingen die Glocken auch noch besser. Bis minus 5 Grad stört uns das gar nicht, weil man schon warm wird beim Glöcknern. Wir haben mal bei 25 Grad und in kurzer Hose geübt – das passte gar nicht. Es muss einfach Winter sein, kalt sein, Weihnachtszeit sein…“.

 

Was er während des Glockenspiels an körperlicher Leistung abliefert, vermag der Hobbysportler nicht zu sagen. Aber er kann es spüren: „Na ja, wenn es am 31. Oktober wieder losgeht, dann hat man am nächsten Morgen schon einen Muskelkater in den Beinen.“

 

Eine dreiviertel Stunde Kulturpflege klingt einfach gänzlich anders als eine dreiviertel Stunde Malochen bis zum Äußersten. Aber ganz so ist es nicht, beruhigt der Glöckner: „Das Gute ist ja, dass wir uns abwechseln können. Niemand muss also 45 Minuten komplett durchspielen. Zu zweit muss man sowieso sein, allein schon wegen des Einhängens der Glocken, das ist zu zweit einfacher. Und nach der Überlieferung wurde tatsächlich der Glöckner auch immer gewechselt.“

 

Legenden um das Nachtsanggeläut

 

Viele Legenden haben sich gebildet, um das ja seit 1790 bekannte Nachtsanggeläut in seinem Ursprung zu erklären. Claus Wiemann ist das die liebste: „Dass sich ein Bischof in dunkler Jahreszeit im Wald verirrt hat und fast vor dem Eistod stand. Der soll dann Glocken gehört und die Orientierung wiedergefunden haben. Anschließend soll er befohlen haben, dass in dunkler Jahreszeit als Dank überall die Glocken zu läuten haben. Überall ist das dann wieder eingeschlafen im Laufe der Jahrhunderte. Wir in Gütersloh sind die letzte Bastion, die das noch pflegt.“

 

Und wenn der Glöckner entfernt lebender Verwandtschaft erklären müsste, was er da im Winter samstags so treibt? Was würde er sagen?

 

„In der Kürze sage ich, dass wir in der Weihnachtszeit nach überlieferten Tonfolgen drei Glocken in C-Dur-Reihe mit Händen und Füßen schlagen. Den Rest muss man aber wirklich sehen, wenn man in der einen Hand einen Strick hat und daran einen großen Klöppel zieht und damit an die Glockenwand schlägt, die beiden anderen Glocken jeweils mit den Füßen spielt.“

 

Schief gegangen sei noch nichts beim Nachtsanggeläut, aber dass man sich verspielt, das gehöre einfach dazu. Der Trost ist dann, dass die, die da unten stehen und zuhören, ja auch nicht wissen, wie es hätte klingen müssen.

 

Lebenslänglich Glöckner?

 

Der Mann ist 57. Dass man als ehrenamtlicher Glöckner durchaus lebenslänglich haben kann, schockt ihn nicht: „Dazu bin ich aber auch gerne bereit. Solange ich die Treppen hochkomme…“, sagt er entspannt.

 

Und was macht der Mann nun wirklich, nachdem die Sommerpause im Turm angebrochen ist? Von Weihnachtsmännern erzählt man sich, dass die sommertags auf Hawaii am Strand rumliegen. Doch Rumliegen ist des Glöckners Sache nicht: „Ich freue mich schon auf den Reformationstag am 31. Oktober, wenn es wieder losgeht. Alle vier sind dann gerne wieder hier. Aber in der warmen, glockenlosen Zeit ist dann ja auch Sport und Musik dran, mein Garten mit den Hühnern…“.

 

Gut möglich, dass das Teilzeit-Glöcknern im Gebälk des Martin-Luther-Kirchturms entspannte, lebensfrohe Menschen macht. Und die machen begeisterte Zuhörer – aus Tradition.

 



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