Der Ball ist rund – ja und?

Autor: gt!nfo

Fotos: Michael Siedenhans

16.06.2021

Woran erinnern wir uns? Na, klar! An den ersten Schultag, die erste Liebe und an das Kopfballungeheuer Horst Hrubesch. An Willy Brandt, Helmut Kohl und an Panenkas Lupfer 1976, die dänischen Urlaubseuropameister 1992 und an die Erzählungen über das legendäre Finale von Wembley 1996. Jetzt läuft wieder die Fußball-Europameisterschaft. Doch irgendetwas fehlt. Und das liegt nicht nur an Marco Reus.


Von Michael Siedenhans


Samstags guckt Papa immer die Sportschau. Heute wie fünfzig 50 Jahren. Doch irgendetwas ist anders. Damals saß Sohnemann vor seinem Papa, der es sich im Fernsehsessel gemütlich gemacht hatte. Man hörte Ernst Huberty zu und kommentierte die Aktionen von Kaiser Franz und Katsche Schwarzenbeck. Heute guckt Papa immer noch, doch Sohnemann sitzt in seinem Zimmer vor der Playstation und spielt bis Ultimo FIFA 20. In seinem virtuellen Team stehen Profis aus der englischen Premier League, der spanischen La Liga oder der italienischen Serie A, Spieler aus der Bundesliga nominiert er selten. Manchmal fragt der Sohn erst am späten Sonntagmittag nach dem Ergebnis eines Bundesligaspiels wie Hoffenheim gegen Freiburg. Diese Kicks interessieren ihn nicht. Doch wenn ManCity oder Chelsea FC an den Start gehen, kennt Sohnemann die Statistiken aller Spieler auswendig – von Ederson bis Olivier Giroud.


Fußballfeste mit Bier, Fahne und Vuvuzela


Bei Länderspielen ist es noch viel schlimmer. Das Urteil von Sohnemann lautet nach 15 Spielminuten meistens knallhart und eiskalt: „langweilig!“ Für den eingefleischten FIFA20-Fan sind die realen Spiele zu langsam, zu fehlerhaft und zu unspektakulär. Er verabschiedet sich und flüchtet an seine Playstation. Früher waren Länderspiele Festtage in der Familie, besonders zu WM- oder EM-Zeiten. Das Bier wurde kaltgestellt, die Deutschlandfahne am Balkon aufgehängt und die Vuvuzela seit 2010 auf viele deutsche Tore eingestimmt. Und dann wurde gezittert und gebangt – mit Schweinsteiger, Lahm, Klose und den anderen Jungs, die 2014 Weltmeister wurden. Es war eine fantastische Nacht! Danach folgte nur noch das Grauen: Erst das Handspiel von Schweini und das Aus im EM-Halbfinale 2016, dann der rätselhaft unmotivierte Auftritt bei der WM 2018. Seitdem ist das Ball-Herumgeschiebe der deutschen Mannschaft so aufregend wie Beamten-Mikado und Spiele wie gegen Nordmazedonien eine moderne Form der Folter.


Tore von Poldi, Gespräche mit Klinsi


Aber das Schlimmste ist: Ich muss mir das alles allein und schweigend anschauen. Mein Sohn sitzt ja mindestens 75 Minuten nicht neben mir. Ich kann meinem Sohn also nicht erzählen, wie wunderbar und spannend der Fußball ist und was ich alles als Fan und Journalist bei Europameisterschaften erlebt habe: die dramatische 0:1-Niederlage gegen Spanien im Pariser Prinzenpark-Stadion, die Zigarettenpause mit Bernd Schneider vor einem Hotel in Dublin, die Lukas-Podolski-Tore in Klagenfurt oder die Gespräche mit Jürgen Klinsmann, Thomas Helmer und Andreas Köpke über die EM 1996 und über die rauchgeschwängerte Stimmung in der Kabine nach dem Titelgewinn von Wembley. Ich bedauere es, dass Sohnemann sich nicht für Papas Erzählungen über den Fußball interessiert.





Mächtiger Fußball und überzogene Gehälter


Dafür gibt es allerdings gute Gründe. Einerseits existiert der Fußball, mit dem ich aufgewachsen bin, nicht mehr. Sie staunen? Dann schauen Sie sich mal das WM-Finale von 1970 mit der großen Show von Pelé auf YouTube an und gehen Sie danach auf den nächsten Fußballplatz. Fast jedes Kreisklassenspiel ist heute dynamischer, schneller und athletischer als jenes legendäre Spiel zwischen Brasilien und Italien. Und dann gibt es noch das große Andererseits: Der Fußball ist zu mächtig geworden und zerfleischt sich selbst. Es gibt Korruption, Missbrauch und Fehlentwicklungen, nicht nur in Frankfurt, Nyon oder Zürich. Und die Funktionäre, die Spielerberater und selbst viele Spieler haben keine feine Nase mehr für das, was den Fan bewegt und antreibt: Die Gehälter und Ablösen sind überzogen, die meisten Spiele gibt’s nur noch im Pay-TV und dazu jetzt noch die zerstückelte Europameisterschaft, die in zehn europäischen und einer asiatischen (Baku!) Stadt stattfindet. Dass dabei die Leidenschaft der Fans auf der Strecke bleibt, nehmen die Macher gern in Kauf: Money makes the world go around!


Sammelsurium der deutschen Stars


Trotzdem: Der Fußball wird mich nicht los! Auch wenn dieser Euro 2020 im Jahr 2021 vieles fehlen wird. Zum Beispiel: Public Viewings und Fan-Feste, Marco Reus im deutschen Kader und coole Spiele der deutschen Elf. Denn mein Bauchgefühl sagt mir, nach den Vorrundenspielen gegen Frankreich, Portugal und Ungarn wird Jogi leise Servus sagen. Das liegt keineswegs an der mangelnden Qualität der deutschen Nationalspieler. Immerhin sind darunter Weltmeister, deutsche, englische und spanische Meister, Champions-League-Sieger und -Finalisten. Aber dieses Sammelsurium an Stars harmoniert und funktioniert nicht. Deswegen wird Deutschland wahrscheinlich in der Vorrunde ausscheiden. Und Italien wird Europameister!


Fußball gemeinsam erleben


Sie sagen jetzt wahrscheinlich: Na und? Stimmt eigentlich, wer neuer Europameister wird, ist eigentlich schnuppe. Die Verantwortlichen in den meisten Fußballklubs im Kreis Gütersloh denken darüber aber ganz anders. Sie leiden heute schon unter den Folgen von Corona und registrieren viele Vereinsaustritte. Ein Turniersieg der deutschen Mannschaft könnte genau eine Trendwende bewirken, eine neue Begeisterung, einen neuen Boom auslösen und die Mädels und Jungs, also jene verlorene Corona-Generation, von der Playstation loseisen oder aus dem Homeschooling befreien, damit sie mal wieder Luft und Sonne spüren und gemeinsam Fußball erleben können. Unmöglich ist das ja nicht – besonders nicht im Fußball. Das haben aktuell Stefan Kuntz und seine U21-Mannschaft bewiesen. Als Außenseiter gestartet, beendete die Truppe das EM-Turnier als ... neuer Europameister! 


Michael Siedenhans

Redakteur bei TERRITORY Content to Results GmbH ist Mitglied im Verband deutscher Sportjournalisten. Er hat neben WM- und EM-Büchern zahlreiche Sachbücher für den DFB und die FIFA realisiert, unter anderem „Leidenschaft am Ball. 100 Jahre deutsche Länderspiele“, und war bei insgesamt vier Olympischen Spielen als Journalist akkreditiert.

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