Veras gute Seiten

August 2025 | Von Befreiungsschlägen, Momenten des Umbruchs und des Neubeginns erzählen diese sechs Empfehlungen.

Julia Engelmann
Himmel ohne Ende

„Eines Tages, Baby“ – mit diesem Poetry-Slam-Video wurde Julia Engelmann 2014 über Nacht berühmt. Zehn Jahre später erscheint ihr Debütroman, der erneut in die Lebenswelt junger Menschen eintaucht: Charlie ist 15 und versteht die Welt nicht mehr. Ihre beste Freundin entfernt sich von ihr, in der Klasse fühlt sie sich als Außenseiterin und noch dazu hat ihre Mutter einen neuen Partner. Selbst ist sie eher unscheinbar und (zu) still. Bis eines Tages Pommes, ein neuer Mitschüler in ihre Klasse kommt und mit ihm die Welt lauter wird. Die beiden entdecken die Stadt, die Nächte und ihre eigenen Geheimnisse. Einfühlsam nähert Julia Engelmann sich dieser besonderen Zeit des Erwachsenwerdens, in der nichts sicher scheint und die Welt auf einmal übergroß wird. Dabei bleibt sie erfrischend unsentimental und gibt dem Roman so eine zugängliche Tonalität.

Diogenes, 416 Seiten, 25 €

Hattie Williams
Bittersüß

Ihr erster Job führt Charlie in ein angesehenes Londoner Verlagshaus, in dem noch dazu der Lieblingsautor ihrer verstorbenen Mutter verlegt wird. Als sie diesen zufällig kennenlernt, beginnt ein intensives Jahr, dass sie noch lange verfolgen wird. Zwischen dem älteren, erfolgreichen, verheirateten Mann und der jungen Frau entwickelt sich eine Beziehung, geprägt von Abhängigkeit und Macht. Die Lesenden spüren Charlies innere Zerrissenheit, die immer mehr auch auf ihr übriges Leben übergreift. Sie lügt, enttäuscht und distanziert so ihre (Wahl-)Familie, bis es schließlich zu viel wird. Neben den Auswirkungen einer toxischen Beziehung, zeichnet Hattie Williams empathisch der Zerrissenheit in den 20er, zwischen Beruf, Sehnsüchten, Trauer und Abschied. Dabei bleibt auch ihre Protagonistin ambivalent in ihren Handlungen und gerade dadurch realistisch.

Ullstein, aus dem Englischen von Hanna Hesse, 429 Seiten, 23,99 €

Kaleb Erdmann
Die Ausweichschule

Darf man einen Roman über Amokläufe schreiben? Diese Frage stellt sich Kaleb Erdmann in seinem autofiktional geprägten Roman. Als Fünftklässler hat er 2002 den Amoklauf in Erfurt miterlebt, ausgelöst durch die Taten in den USA beginnt er ein literarisches Projekt über Verarbeitung, Trauma und die Sprachlosigkeit. Der Prozess führt ihn gleichermaßen zurück in die Tage unmittelbar um die Tat und so in die Hilflosigkeit besonders der Erwachsenen wie auch in Begegnung in der Gegenwart. Er trifft auf ehemalige Klassenkameraden, deren Lebensrealität Welten entfernt scheint, einen Dramaturgen, der ein Stück inszenieren will, seine Therapeutin, während gleichzeitig sein Alltag weiterläuft. Diese Ambivalenzen und die über allem stehende Frage, ob und wer über solche Ausnahmesituationen schreiben darf, zieht sich durch diesen eindringlichen Roman.

park x ullstein, 298 Seiten, 22 €

Anette Selg
Das Jahr, in dem ich verschwand

In der Mitte ihres Lebens will die Erzählerin – Mom, Ehefrau, Lehrerin – für ein Jahr in die Fremde. Ihr Sabbatical ist bewilligt, der Mann und das Kind sind einverstanden, doch dann fängt etwas ganz anderes an. Das Jahr vor dem großen Aufbruch, in dem sie von Träumen und Sehnsüchten überrollt wird, von Erinnerungen an erste und letzte Lieben, an Wegk reuzungen, Kehrtwenden, Geburt und Tod. Wie ist sie zu der Frau geworden, die sie heute ist? Was lässt sie zurück, wenn sie aus dem eigenen Leben verschwindet? Die Lesenden folgen der Frau durch dieses Jahr, beginnend im Grau des Februars. Anhand Ihrer Gedanken entwickelt sich das Bild einer Frau zwischen Sehnsüchten und Ängsten. Was passiert, wenn sie das spürt, was sie zuletzt in längst vergangenen Jahren erlebt hat. Erinnerungen schleichen sich in die Gegenwart, bis beide unaufhaltsam mit einander kollidieren.

Schöffing, 208 Seiten, 24 €

Verena Keßler
Gym

Fitnessstudios bringen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Für Verena Keßlers Protagonistin ist das MEGA GYM erst nur eine Übergangslösung – ein Job, bei dem sie nicht nachdenken muss, bei besten Bedingungen. Hätte sie nur nicht behauptet, erst kürzlich ein Kind bekommen zu haben. Das hat ihr zwar den Job gebracht, zieht allerdings auch unangenehme Nachfragen nach sich. Doch nicht nur in diese Geschichte steigert sie sich immer weiter hinein, auch ihren Körper pusht sie immer weiter ans Limit und darüber hinaus. Ob die Mittel dabei legal und gesund sind, stört sie wenig. Ihr einziges Ziel: Auszusehen wie Bodybuilderin Vick. In ihrem dritten Roman macht Verena Keßler das Fitnessstudio zum Spiegel einer obsessiven Gesellschaft, die Ehrgeiz über alles stellt und sich dadurch wild, absurd und universell lesen lässt.

Hanser Berlin, 192 Seiten, 23 €

Leon Engler
Botanik des Wahnsinns

Was tun, um ja nicht so verrückt zu werden wie die eigene Familie? Diese Frage stellt sich der Protagonist in Leon Englers Debütroman, der mitten in den dunklen Stammbaum einer Familie voller psychischer Erkrankungen führt. Großmutter, Großvater, Mutter, Vater: Diagnosen, die Generationen prägen. Wie sehr bestimmt das die eigene Identität? Nach Stationen in New York, Paris und Wien landet der Erzähler dort, wo er niemals enden wollte: in der Psychiatrie. Allerdings als Psychologe, auf der anderen Seite des Schreibtischs. Und doch eröffnet sich erst hier die Möglichkeit, die eigene Familie in anderem Licht zu sehen. Mit subtilem Witz, sanfter Einfühlsamkeit und brutalem Ernst lotet Engler aus, wie schmal die Grenze zwischen Normalität und Verrücktheit ist und wie es gelingen kann, in einer solchen Welt einen klaren Kopf zu gewinnen.

Dumont, 206 Seiten, 23 €

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