Was bisher geschah!

Text und Fotos: Sybille Hilgert

200 Jahre Gütersloh – Wer kennt sich in der Stadtgeschichte besser aus als die Stadtführerinnen und Stadtführer? Wir wollten von Brunhilde Kohls (alias Güths Mariechen) und Klaus Gottenströter (alias Nachtwächter Ernst August Fißmer) wissen, was denn so Besonderes an Gütersloh ist – und was in den vergangenen 200 Jahren passierte. Dazu trafen wir uns am Kirchplatz.

So fing es an …
Am Kirchplatz ist Gütersloh sozusagen aus dem Ei geschlüpft. Er war das Zentrum des mittelalterlichen Dorfes Gütersloh. Die ursprünglich als Vollkreis angeordnete Bebauung entstand ab dem 12. Jahrhundert. Allerdings handelte es sich zunächst nur um Speicher (Spieker). Diese wurden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert durch die heute noch zu sehenden Fachwerkhäuser abgelöst.

Bereits um 1100 gab es hier eine Ansiedlung, wie die Funde zeigen, die bei der Sanierung des Hauses Nummer 11, eines der ältesten Gebäude Güterslohs, entdeckt wurden. Hier wurden 2016 die Pfostenlöcher eines Baus aus dem 12. Jahrhundert freigelegt. Brunhilde Kohls weiß, dass am Kirchplatz bereits um das Jahr 800 herum eine Holzkirche gestanden haben muss. Später wurde eine Steinkirche erbaut. Der Sockel des Turms aus dem 13. Jahrhundert bildet den unteren Abschnitt des heutigen Kirchturms der Apostelkirche. Aufstockungen erfolgten im Jahr 1472 und letztmalig 1881.

Am Totensonntag 1944 wurden bei einem Bombenangriff 80 Personen getötet und 52 verletzt. Eben in jener Apostelkirche, die wegen ihrer dicken Mauern als Luftschutzraum ausgewiesen war, starben 19 Personen. Das Kirchenschiff wurde durch einen Volltreffer total zerstört. Der Turm blieb stehen. Der Wiederaufbau der Kirche wurde Anfang der 1950e-Jahre nach Plänen des Architekten Werner March vorgenommen, der auch der Planer des Olympiastadions in Berlin war.

Die Apostelkirche hat in Gütersloh ein Alleinstellungsmerkmal: Sie wurde mehr als 200 Jahre lang als Simultan- kirche von beiden Konfessionen genutzt. „Es gab zwei Pastoren, zwei Pfarrämter und ein Taufbecken. Das hatte in der Mitte eine Mauer mit Schloss, damit evangelische und katholische Christen auch ja mit dem richtigen Wasser getauft wurden“, so Klaus Gottenströter. „Bei dieser einmaligen Geschichte finde ich es sehr schade, dass es Überlegungen gibt, die historische Kirche zu schließen und zu verkaufen,“ sagt Brunhilde Kohls.

Wie war das in Klein-Nazareth?
Kirche und Religion spielten in Gütersloh eine sehr große Rolle, insbesondere im 19. Jahrhundert. Der Prediger Johann Heinrich Volkening, ein führender Vertreter der Erweckungsbewegung und strenger Pietist, stieß mit seinen Predigten in Gütersloh auf Begeisterung und eine große Anhängerschaft, was der Stadt den Spitznamen „Klein Nazareth“ einbrachte. Volkenings Freund Carl Bertelsmann druckte zahlreiche christliche Schriften, darunter die Volkening-Gesangsbücher „Die kleine Missionsharfe“– eine wichtige Grundlage des späteren Weltkonzerns Bertelsmann.

Und noch etwas trug zum Ruf von Klein-Nazareth bei: Gütersloh war Missionsstadt. Missionare gingen von hier aus nach Sumatra, Südafrika und das heutige Namibia. Die Kinder dieser Missionare wiederum gingen in Gütersloh ab 1881 aufs frisch gegründete Evangelisch Stiftische Gymnasium. Nicht jede Stadt hatte damals eine höhere Schule. Doch da Gütersloh über eine Bahnanbindung verfügte (dazu später mehr), kamen viele Kinder aus Westfalen (von Minden bis ins Sauerland) zum Besuch dieses Gymnasiums nach Gütersloh. Sie wohnten unter der Woche in Gütersloher Haushalten, die sich damit ein ordentliches Zubrot verdienen konnten.

Das wiederum versöhnte die Gütersloher mit dem Gymnasium, das sie zuvor für unnötig gehalten hatten. Das Gymnasium wiederum wurde, so Brunhilde Kohls, extra an die Feldstraße gebaut. Denn hier herrschte Einöde und nicht das Lotterleben wie in der Innenstadt, wo auch schon mal Schnaps gebrannt wurde.

Waschen, Schneidern, Lesen
Einer der wichtigsten Industriezweige Güterslohs war jahrzehntelang die Textilwirtschaft. Schon im 18. Jahrhundert sollen Hunderte Webstühle in Gütersloher Haushalten zu finden gewesen sein. Um das Jahr 1900 gab es in den sieben großen Fabriken von Bartels über Greve & Güth bis Vossen mehr als 700 Arbeitsplätze.

Anfang des 19. Jahrhunderts siedelte sich die Textilunternehmerfamilie Bartels aus dem Bergischen Land hier an. Zum einen sorgte der Kaufmann und Tuchhändler Johann Wilhelm Bartels dafür, dass die feinen Gütersloher Stoffe europaweit verkauft wurden. Zum anderen bekam seine Villa an der Kirchstraße 21 (das heutige Standesamt) eine Fassadenverkleidung aus Schiefer, ein Material, das man in Gütersloh nicht kannte und das auf den Wohlstand der Eigentümer hinweisen sollte.

Die Handarbeit an den Webstühlen wurde nach und nach durch Dampfmaschinen und später elektrische Antriebe ersetzt. Der Aufschwung hielt hundert Jahre an, bis in den 1970er-Jahren der Abstieg der Textilwirtschaft begann. „Es gab damals eine Arbeitslosenquote von mehr als 25 Prozent, denn jeder Vierte war zu dieser Zeit in Gütersloh in der Textilindustrie beschäftigt“, so Klaus Gottenströter. Heute gibt es in Gütersloh noch eine der ältesten und größten Band- und Gurtwebereien Europas, das Familienunternehmen Güth&Wolf, sowie das Familienunternehmen Niemöller & Abel, Hersteller von Rettungsdienstbekleidung.

Aber es gab ja nicht nur die Textilindustrie. Mit Bertelsmann und Miele sind hier seit Jahrzehnten zwei Weltunternehmen ansässig. Und diese wären nicht nach Gütersloh gekommen, wenn es den Bahnanschluss in Gütersloh nicht gegeben hätte. „Wir können den Unternehmen Bertelsmann und Miele dankbar sein, dass sie dem Standort Gütersloh treu geblieben ist“, sagt Klaus Gottenströter. Ohne Bahnanschluss wäre auch das weltbekannte Unternehmen Gustaf Wolf, heute führender Anbieter von Stahlseilen und -drähten, nicht von Bielefeld nach Gütersloh umgesiedelt.

Die Bahn macht Gütersloh groß
Am 15. Oktober 1847 um 15.30 Uhr fuhr der erste Zug auf der frisch eröffneten Strecke von Köln nach Minden durch Gütersloh. Damit hatte Gütersloh Anschluss an eine der wichtigsten Verkehrsstrecken Europas: Der Startschuss für den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt. So ganz glatt lief das Ganze im Vorfeld allerdings nicht. Die Bahn musste sich zwischen der Strecke Köln-Minden oder einer Route über Herzebrock-Clarholz oder Lippstadt entscheiden. „Und da haben sich Gütersloher Kaufleute zusammengetan, Geld gesammelt und der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft zur Verfügung gestellt. So konnte sich diese schneller und ganz eindeutig für Gütersloh entscheiden“, erzählt Brunhilde Kohls.


Gute wirtschaftliche Voraussetzungen
„Wenn die Bahnstrecke nicht über Gütersloh gelaufen wäre, dann hätten sich die ganzen Industriezweige nicht bei uns angesiedelt. Und Gütersloh wäre heute eine Bauernschaft mit vielleicht 20.000 Einwohnern“, so Klaus Gottenströter. Und erklärt das am Beispiel des Unternehmens Miele. Das war nämlich ursprünglich in Herzebrock-Clarholz zu Hause. Der Umzug nach Gütersloh erfolgte aus vier Gründen. Da war natürlich der Bahnanschluss. Dann war Gütersloh größer als Herzebrock, und daher war es leichter, an Mitarbeiter zu kommen. Außerdem gab es hier ein Gaswerk. So konnten die Maschinen mit Gas angetrieben werden, was einen enormen wirtschaftlichen Vorteil brachte. „Und“, so, Klaus Gottenströter „in Herzebrock-Clarholz war man größtenteils katholisch, in Gütersloh dagegen evangelisch. Es gab daher in Gütersloh drei Feiertage weniger – das bedeutete: In Gütersloh konnte drei Tage mehr gearbeitet werden – und das ergab drei Tage mehr Umsatz.“

Warum wurde Gütersloh zur Stadt?
„Das ist ganz einfach“, sagt Brunhilde Kohls: „Man benötigte Städte, um Landtagsabgeordnete wählen zu können. Gütersloh hatte aber noch nicht die Größe, die zur Verleihung der Stadtrechte erforderlich gewesen wären. Da man hier aber immer preußisch-königstreu war, wurde Gütersloh dazu auserkoren, Stadt zu werden und damit die Wahlen der Landtagsabgeordneten durchführen zu können.“

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Was macht Gütersloh aus?
Brunhilde Kohls meint, dass Gütersloher zum Untertreiben neigen. „Als ich nach Gütersloh kam, ist mir aufgefallen, dass die Gütersloher, und zwar auch die reichen Kaufmannsfamilien, ihren Reichtum nie nach außen zeigen.“ Auch der bodenständige Mittelstand, der für eine gleichbleibenden Wohlstand sorgt, sei typisch für Gütersloh.

Glückliche Kindheit in Gütersloh
Dem geborenen Gütersloher Klaus Gottenströter ist vor allem seine unbeschwerte Kindheit in Erinnerung geblieben. Er konnte mit seinen Geschwistern und Freunden einfach auf der Straße spielen – und zwar eigentlich immer im Norden, wo er auch aufgewachsen ist. „Der Norden war unser Bereich. In die Innenstadt sind wir kaum gegangen“ Auch Gottenströter betont den starken Mittelstand und weist auf die zahlreichen Gütersloher Möbelfirmen hin, die während des Wirtschaftsaufschwungs in den 1950-er Jahren auf der Internationalen Möbelmesse in Köln vertreten waren.

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