Bürgerrat stärkt Demokratie

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Antoine Jerji

07.03.2021

Dr. Anke Knopp (parteilos) und Matthis Haverland (SPD) finden Gemeinsamkeiten im Streitgespräch. Zu den wesentlichen Wahlkampfthemen der BfGT und ihres erfolgreichen Bürgermeisterkandidaten Nobby Morkes gehörte die Forderung nach der Einrichtung eines Bürgerrates. Wie dieser aussehen soll, lässt Morkes allerdings noch offen. Mit den Stimmen von SPD, Grünen, BfGT und UWG und gegen die Stimmen der CDU hatte der alte Hauptausschuss bereits im März 2020 einen entsprechenden Bürgerantrag der Gütersloher Initiative „Demokratie wagen!“ zur Bearbeitung an die Verwaltung verwiesen. Eine entsprechende Stellungnahme mit einem Beschlussvorschlag für den Rat liegt allerdings bis heute nicht vor. gt!nfo ließ für ein „Stadtgespräch“ die Aktivistin von „Demokratie wagen!”, Politikwissenschaftlerin Dr. Anke Knopp, mit dem jetzt erstmals und direkt in den Rat gewählten SPD-Politiker Matthis Haverland, ebenfalls Politologe, über die Idee des Bürgerrats diskutieren. Erkenntnis: Es gibt Gemeinsamkeiten.


Frau Dr. Knopp, in Ihrer politischen Biographie zeigt sich eine deutliche Konstante: Ihr Einsatz für mehr direkte Demokratie vor allem in der lokalen Umgebung. Warum kämpfen Sie aktuell für einen Bürgerrat?


KNOPP: Ich bin eine Urdemokratin und leidenschaftlich für Open Government, offene Daten und direkte Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger. Das war auch bereits das Thema meiner Dissertation in den 90er-Jahren, in der ich der Frage nachging, wie wirkungsvoll die Instrumente Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Kreis Gütersloh und in kreisangehörigen Gemeinden genutzt werden. Damals stand die Modifizierung der Gemeindeordnung an. Ich stellte in der Arbeit große Differenzen zwischen Theorie und Praxis fest und das gilt bis heute. Es gibt zu wenig moderne Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger. Deshalb brauchen wir einen Bürgerrat als verlängerte Werkbank des Parlaments. Er bringt neue Blickwinkel, die bisher nicht im Rat repräsentiert werden, in die Debatte ein. In unserem Bürgerantrag schlagen wir vor, dass sich ein Bürgerrat mit der Frage „Wie wollen wir in 2030 leben?“ beschäftigt. Es geht um ein identitätsstiftendes Ziel, für das zufällig ausgeloste Bürger aus allen Bevölkerungsschichten Ideen und Empfehlungen für den Rat formulieren. Wir haben inzwischen den Zusatz „Auf dem Weg zur klimaneutralen Stadt“ eingefügt, weil wir das Thema konkreter machen wollen.


Sind die Parteien nicht mehr in der Lage, die Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung aufzunehmen und umzusetzen?


KNOPP: Die Werkzeuge der Demokratie sind jedenfalls nicht in dem Maße mitgewachsen, wie es heute notwendig wäre. Es gibt wachsenden Unmut in der Bevölkerung, dass sie nicht mehr gehört und mitgenommen wird in einer immer differenzierter werdenden Welt. Angesichts des großen Spektrums unterschiedlicher Meinungen, Haltungen und Lebensstile der Menschen muss unser politisches System der repräsentativen Demokratie dringend vitalisiert werden. Wir brauchen mehr Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen. Wenn wir von „Demokratie wagen!” die Installierung eines Bürgerrates für Gütersloh fordern, dann wollen wir damit die Wirksamkeit repräsentativer Demokratie stärken – der Bürgerrat soll die Diversität der Meinungen abbilden und ein Additiv für die Ratsarbeit sein. Es ist besorgniserregend, dass über 60 Prozent der Bürger nicht an der Kommunalwahl in diesem Jahr teilgenommen haben. Ich sehe die Gefahr, dass da ein Vakuum entsteht und Menschen zunehmend zu Parteien und Bewegungen abwandern, die die Zukunft in der Vergangenheit sehen. Dabei stehen wir vor einer Phase riesiger Transformation – Stichworte demographischer Wandel, Klimakatastrophe, Bildungssystem, Digitalisierung. Das verlangt, eine größere Menge an Menschen als bisher zu Wort kommen zu lassen.


Warum kann die Politik heute vor allem im Lokalen weniger Menschen an sich binden, als früher?


HAVERLAND: Ich glaube, viele Menschen haben ein eher allgemeines Bild von den politischen Richtungen, die es gibt. Mit der Unzufriedenheit über die große Politik wird man dann auch lokal vor Ort konfrontiert. Es gibt ja keine Umfragen, wie die Politik in Gütersloh ankommt, entscheidend beim Wahlgang sind wohl oft auch die Trends im Land oder auf Bundesebene. Das Rathaus ist irgendwie weit weg. Die geringe Wahlbeteiligung muss kommunal jedenfalls nicht unbedingt mit der Unzufriedenheit vor Ort zu tun haben. Aber sie ist ein Zeichen und wir müssen darauf reagieren, damit die Menschen sich auch lokal in den Ratsparteien mit ihren Themen wiederfinden. Es ist leider schwer, den Rat so zu besetzen, dass er die Vielfalt der Gesellschaft exakt spiegelt. Das hängt damit zusammen, dass die Politik hier ehrenamtlich betrieben wird, und das kann sich nicht jede Berufsgruppe leisten. Immerhin gibt es viele Beteiligungsformate für die parteiunabhängigen Bürger. Eltern, Schüler und Lehrer können sich in Beiräten einbringen, so auch Behinderte, Senioren und ausländische Mitbürger. Jeder kann einen Bürgerantrag oder eine Einwohnerfrage stellen und es gibt natürlich auch Bürgersprechstunden. Da wird schon drauf gehört in den Parteien. Ich finde es am Ende gut, dass es das Kollektiv der Volksparteien gibt, weil die übergreifenden Themen dort abgebildet werden. 


Sagen Sie damit, dass ein Bürgerrat überflüssig ist?


HAVERLAND: Nein, für meine Partei kann ich sagen, dass die SPD grundsätzlich für die Weiterentwicklung des demokratischen Systems eintritt. Wir müssen und wollen als Partei offener werden, was wir bundesweit auch schon praktizieren, wir müssen die Veränderungen in der Gesellschaft aufnehmen und auch in unserer Arbeit spiegeln. Es gibt insofern keinen entscheidenden Widerspruch zwischen uns und der Forderung nach einem Bürgerrat.


Die Menschen scheinen sich immer weniger für ein Engagement in der Politik zu interessieren. Täuscht dieser Eindruck?


KNOPP: Ich halte dagegen, dass es eine enorme Aktivierung vieler Menschen aus allen Generationen außerhalb der klassischen repräsentativen Parteiendemokratie gibt: Es gibt die Fridays for future-Demonstrationen, die Critical Mess-Aktionen, den Kampf für den Erhalt der zweispurigen B61, auch punktuelle Streits und Leserbriefe zum Schutz von Bäumen, für den Tierschutz und so weiter. Diese Menschen brauchen ein politisches Sprachrohr, damit ihre Meinungen in der Politik gehört werden. Sie werden im Rat nicht adäquat gespiegelt.


HAVERLAND: Zur Wahrheit gehört, dass es da große Schnittmengen bei den Teilnehmern gibt. Man kommt von der Verkehrswende- Demo direkt zur Flüchtlings-Demo oder zum Protest gegen vermeintlich überflüssige Baumfällungen.


KNOPP: Ich sehe noch einen anderen Punkt: Die Politik verliert auch an Sogkraft, weil es kaum Entwicklung in vielen Baustellen gibt. Was bleibt nach sechseinhalb Jahren Ratsperiode? Die Klimakrise ist nicht adäquat adressiert. Die Bildungspolitik – Stichwort Grundschulen – ist desaströs, die Stadt reagierte erst auf einen Brief aus Detmold. Digitalisierung: Mein Sohn kam 2001 in die Schule, inzwischen hat er sein Studium abgeschlossen, ich sehe aber heute noch den gleichen Schrott dort wie damals, als ich durch die Computerräume geführt wurde. Da ist nichts erledigt. Wir brauchen das Wissen der Vielen in einem Bürgerrat und eine legitimationsstiftende Klammer für die große Diversität in unserer Gesellschaft, sonst sind kollektive Entscheidungen kaum noch möglich. Wir waren begeistert, als wir die vielen frischen Leute bei der Gütersloher „Regionalkonferenz Demokratie“ im vergangenen Jahr erlebten!


Ein Bürgerrat kann nur empfehlen. Andererseits: Kann sich die Politik überhaupt erlauben, „Volkes Meinung“ abzulehnen? 


HAVERLAND: Dieses Problem sehe ich bei einem Bürgerrat, gegen den ich grundsätzlich nichts einwende, auch so: hier die Bürger – dort die Politik. Diesen Gegensatz lehne ich ab. Wir müssen klarmachen, dass es nur Hand in Hand geht. Sonst ist das kommunalpolitisch ein Problem. Die Politiker schweben doch nicht wie ein Raumschiff über der Stadt. Da gibt es eine Rückkopplung zu den Wählern.


Was ist denn, wenn ein Bürgerrat zu einer Empfehlung kommt, die dem bisherigen Stand der Diskussion überhaupt nicht entspricht? Wenn er zum Beispiel Maßnahmen zur Mobilitätswende schlicht ablehnt?


KNOPP: Es wäre das Votum der Bevölkerung, ja. Und das muss auch verhandelt werden. Aber dann kann der Rat immer noch anders entscheiden – mit transparenter, erklärender Begründung. Entscheidend ist, dass die Meinungen der Menschen in den politischen Prozess einfließen, dass informiert wird und Austausch stattfindet.


Das würde die Menschen, die im Bürgerrat mitarbeiteten, allerdings frustrieren. Ein fataler Effekt.


KNOPP: Ist schon an anderen Stellen passiert. Zum Beispiel mit den vielen tollen Ideen im Rahmen des Bürgerhaushalts. Sie sind heute nicht mehr zu finden auf der Website der Stadt. So kann es nicht gehen.


HAVERLAND: Der Rechtfertigungsdruck des Rates steigt bei einem Votum des Bürgerrates. Ich bin mir allerdings sicher, dass die Frage „Wie schafft es Gütersloh, klimaneutral zu werden?“ viele neue Antworten hervorbringt. Für die Fraktionen dürfte das Votum eines Bürgerrates übrigens den Vorteil haben, dass sie hier und da auch ein bisschen was ablagern können, wenn es um unbequeme Entscheidungen geht – zum Beispiel für oder gegen die autofreie Innenstadt.


Sehen Sie Bürgerbeteiligung als dynamischen Prozess?


KNOPP: Ja. Was heute gilt, kann schon zwei Wochen später durch technologische Entwicklungen überholt sein. Wir leben in einer solchen Transformationszeit, dass wir immer wieder aufgerufen sind, Meinungen einzuholen.


HAVERLAND: Wenn man allerdings schon 30 Jahre im Rat sitzt, kommt man beim 29. Haushaltsplan nicht mehr auf die Idee, jetzt mal alles anders zu machen.


KNOPP: Das ist der Grund, warum ich für die zeitliche Begrenzung der Ratsmandate und auch der Amtszeit des Bürgermeisters auf zwei Legislaturperioden bin. Wir brauchen mehr Menschen mit einer Zukunftsidee. Wir denken sehr provinziell, obwohl wir Großstadt sind. Mir fehlten diese Zukunftsgeschichten auch im Kommunalwahlkampf.


Der neue Bürgermeister Nobby Morkes hat die Bildung eines Bürgerrates für Gütersloh auf seine Agenda gesetzt. Sind Sie mit ihm auf einer Linie?


KNOPP: Ich kenne die Vorstellungen von Norbert Morkes noch nicht, bisher kam es zu keinem Gespräch zwischen uns. Der Bürgerrat ist sicher der Lackmustest für ihn. Unser Antrag ist im politischen Raum, da muss jetzt was kommen.


Wie oft sollte denn der Bürgerrat einberufen werden?


KNOPP: Das wird der neue Rat festlegen. Er kann sagen: Die nächsten fünf Jahre sind wichtig für die Entwicklung der Stadt, deswegen soll der Bürgerrat zweimal in der Legislaturperiode arbeiten. Wir haben ja zum Beispiel auch die 13 Millionen Euro Fördergelder aus dem Smart-City-Programm, damit lässt sich einiges umsetzen. Oder er tagt nur einmal. Immerhin ist unser Themenvorschlag „Gütersloh in 2030 – auf dem Weg zur Klimaneutralität“ inhaltlich umfassend genug. Und das, was dann der Rat als Teilschritte auf Basis der Empfehlungen beschließen sollte, muss ja auch erst mal umgesetzt werden.


HAVERLAND: Mein Problem ist, dass wir noch nicht wissen, welche Art von Bürgerrat wir überhaupt bekommen würden. Ein Bürgerrat ist ja kein Allheilmittel per se. Es kommt darauf an, wie man ihn gestaltet.


Soll ein Bürgerrat auch Themen wie die B61-Fahrradbrücke oder die Ausweisung von neuen Windkraftanlagen diskutieren und darüber Empfehlungen aussprechen?


HAVERLAND: Nein, bei solchen Einzelfragen, dazu gehört zum Beispiel auch die autofreie Innenstadt, kann man auch mal einen Bürgerentscheid fordern. Der Bürgerrat sollte eher ein Gesamtkonzept mit verschiedenen Maßnahmen vorlegen. Darüber sollte dann die Politik auf Grundlage von Entscheidungsvorschlägen der Verwaltung entscheiden.


KNOPP: Ich bin übrigens auch dafür, stadtteilbezogene Diskussionsrunden anzubieten, um die Dinge noch enger zu diskutieren, wenn Maßnahmen von der Verwaltung erarbeitet wurden. Auch, um konkrete Anträge stellen zu können. Und: Beteiligung kann nicht nur dann stattfinden, wenn der Rat es will, sondern sie muss an konkrete Kriterien gebunden sein, die überprüfbar sind, etwa durch eine jährliche Demokratiebilanz.

Haverland: Ich bleibe dabei: Der Bürgerrat wird kein Allheilmittel sein. Es gibt ja schon so viele Tools für die Partizipation. Wir können zum Beispiel schon jetzt die Nachbarschaft einbinden, wenn es um die britischen Wohnungen geht. Aber richtig ist auch, dass wir dringend mehr Menschen an den politischen Prozessen beteiligen müssen. An dieser Stelle sind wir uns einig.

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