„Großes Maß an Informalität“

Markus Corsmeyer

Autor: Markus Corsmeyer

Fotos: Wolfgang Sauer

27.04.2022

Gütersloh schreibt Geschichte – von 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart. Das ist die Zeitspanne, die das Forschungsprojekt des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg umfasst. Ein dreiköpfiges Forschungsteam unter der Leitung von PD Dr. Christoph Lorke untersucht wissenschaftlich die Stadtentwicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute und schließt damit an die erste wissenschaftliche Stadtgeschichte an, die zum Stadtjubiläum im Jahr 2000 erschien. Das nächste „runde“ Jubiläum 2025 – 200 Jahre Stadtwerdung – ist auch als Erscheinungsdatum für den nächsten Band vorgesehen. Allerdings ist es weit mehr als eine Fortschreibung.


 

Das ergibt sich bereits aus der Themenstellung und der Zielsetzung. Lorke, Joana Gelhart und Tim Zumloh widmen sich der Zeitgeschichte und arbeiten neben dem Quellenstudium auch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. „Das Vorhaben betrachtet in verschiedenen Teilprojekten die vielfältigen Wandlungen von Stadt und Stadtgesellschaft: von den unmittelbaren Nachkriegs- und Aufbaujahren über die Zeit des „Wirtschaftswunders“, von Strukturwandel und der Globalisierung, den Übergang der industriellen Moderne in die „Spät“- bzw. „Postmoderne“ bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, heißt es in der Projektbeschreibung.

 

Markus Corsmeyer traf sich mit PD Dr. Christoph Lorke zum Stadtgespräch.

 

Ist Stadtgeschichte spannend – und warum gibt es diese Aufarbeitung der „Gütersloh-Story“ eigentlich?

 

Unbedingt. Stadtgeschichte ist ein Spiegel dessen, was die Stadt heute darstellt: die DNA … Sie steht für Identität, für das Werden, für das Heute. Gerade dieses Projekt ist vielversprechend, weil der Zeitraum bis heute offen ist. Wir beginnen zwar in unserer Aufarbeitung mit dem Jahr 1945, mit dem Ende des Krieges, mit den Trümmerjahren, aber wir führen diese Linie bis ins heutige Gütersloh fort. Es ist auch absolut spannend, die jüngste Zeitgeschichte, die quasi noch „qualmt“, zu bearbeiten, weil jeder Gütersloher und jede Gütersloherin etwas beisteuern und eine eigene Geschichte über Gütersloh erzählen kann. Natürlich gibt es auch Problematiken, weil diese Abgeschlossenheit noch nicht gegeben ist.

 

Sie sprechen von einem dreiköpfigen Team. Kann man so ein Projekt überhaupt mit so wenigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen „stemmen“ – oder werden Sie noch von weiteren Historikern und Historikerinnen unterstützt?

 

Wie drei bilden das Kernteam. Wir arbeiten seit Januar 2022 an diesem Projekt, fahren regelmäßig nach Gütersloh in Archive und führen Gespräche. Hinter uns stehen jedoch die genannten Institute mit geballter Fachkraft der Kollegen und Kolleginnen auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Wir sind breit aufgestellt und lassen uns entsprechend unterstützen. Es wird ein sehr facettenreiches Buch, dass kein chronologischer Abriss ist.

 

Findet Stadt- beziehungsweise Regionalgeschichte einen immer größeren Zugang auch zu jüngeren Menschen? Die Leiterin des Stadtarchivs, Julia Kuklik, ist beispielsweise auch noch sehr jung,

 

Ja, das stimmt. Unsere Doktorandin Joana Gelhart und Tim Zumloh als wissenschaftlicher Volontär bilden ein junges und dynamisches Team – immer in Zusammenarbeit mit den arrivierten Kollegen und Kolleginnen. Wir sind übrigens am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg tätig. Es ist also ein Projekt, das von zwei renommierten geschichtswissenschaftlichen Instituten betrieben wird. Das unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Projektes. 

 

Welchen Anspruch hat das Buch?

 

Ich sitze bei Ihnen in der Redaktion und lese hier auf einem Aufsteller: „gt!nfo informiert, irritiert und integriert.“ Das ist eine spannende Alliteration, die man in mancher Sicht auch auf die Stadtgeschichte übertragen kann. Wenn wir das mit dem Buch zum Stadtjubiläum einlösen können, haben wir einiges erreicht.

 

Haben Sie bereits Erfahrung mit einem vergleichbaren Projekt sammeln können?

 

Für mich ist es jetzt neue Erfahrung, als stadtgeschichtlicher Projektleiter zu arbeiten. Wir wollen keine Erfolgsgeschichte und keine Lobhudelei schreiben, sondern auch die Ambivalenzen, die es ja in Gütersloh wie auch anderswo reichhaltig gibt, offenlegen und Brüche, Widersprüche, Weggabelungen sowie Irritationen zur Sprache bringen.

 

Sind Sie bereits auf „dunkle Flecken“ in der Stadtgeschichte gestoßen und fündig geworden?

 

Wir stehen erst am Anfang unseres Aktenstudiums und der Gespräche. Vielleicht müssen wir uns in diesem Zusammenhang in zwei Jahren noch einmal treffen. Es lässt sich aber schon eine interessante Verflechtung zwischen Stadtverwaltung, Wirtschaftsunternehmen und verschiedenen Akteuren sowie prominenten Personen feststellen, die uns auch ein großes Maß an Informalität zeigt. Da gibt es Personen, die nicht nur dienstlich miteinander zu tun hatten, sondern zum Teil auch persönlich und freundschaftlich über viele Jahre hinweg die Geschicke der Stadt entsprechend gesteuert haben. Das muss aber nicht nur negativ betrachtet werden. Es gibt und gab auch allerlei produktive Zusammenschlüsse und viele aufschlussreiche Entwicklungen. Die Stadt Gütersloh ist schon insgesamt ein Sonderfall in der Stadtentwicklung. Es gibt Gründe, warum Gütersloh einen anderen Weg eingeschlagen hat als andere Städte in anderen Kontexten und eine sozioökonomisch robuste und resiliente Stadt gewesen ist!

 

Ist diese Stadt etwas Besonders?

Ja, Gütersloh ist schon etwas Besonderes. In anderen west- und mitteldeutschen Großstädten erzählt uns die Geschichtswissenschaft häufig die Geschichte eines Niedergangs, angespannter Finanzlagen – insbesondere seit den 1970er- und 1980er-Jahren. Auch Gütersloh hatte Probleme in dieser Zeit, aber mit den Unternehmern und Unternehmerinnen hat man nach Lösungen gesucht, wie man in Zeiten globaler Wirtschafskrisen, im Strukturwandel und angesichts verschiedener  Engpässe proaktiv und präventiv dagegen wirken kann. Man hat durch einen regen Austausch untereinander vorausschauend agiert.

 

War es ein Wunsch der Stadt Gütersloh, dass Sie uns den Spiegel vorhalten und keine Lobhudelei schreiben?

 

Von der Stadt Gütersloh sind uns keine Maulkörbe angelegt worden. Ziel unserer Forschungsarbeit ist es, eine authentische Stadtgeschichte zu schreiben – sie ist, wie die Grundfarbe der Geschichtswissenschaft: grau. Wir betrachten weder das helle Weiß noch das dunkle Schwarz, sondern es werden sich verschiedene Nuancen von entsprechenden Abstufungen feststellen lassen. Das ist das Spannende daran. Wir wollen ein kontrastreiches Narrativ zeigen.

 

Wie arbeiten Sie an diesem Projekt?

 

Während des ersten Monats haben wir uns [C3] da zunächst in die Stadtgeschichte Güterslohs eingelesen. Es gibt bereits einige Bücher über diese Stadt, die populärwissenschaftlich wie auch fachwissenschaftlich geschrieben wurden. Darüber hinaus liegen uns unter anderem Imagebroschüren und vieles mehr vor. Dazu haben wir uns mit den wichtigen Wegmarken dieser Stadt beschäftigt – zum Beispiel dem Jahr 1984. Die mittleren 1970er- bis frühen 1980er-Jahre sind offenbar eine wichtige Scharnierzeit – trotz aller krisenhaften Erschütterungen stellte dies eine markante Aufbruchszeit für Gütersloh dar

 

Sie können ja nicht alles erzählen und sich nur auf gewisse Themenbereiche fokussieren. Reißen sie diese doch mal kurz an …

 

Wir müssen grundsätzlich von Heute ausgehend denken und dann fragen: Wie ist die Vorgeschichte von heutigen Problemkonstellationen? Ich nenne ein paar Punkte: Digitalisierung, Migration und Integration, die Frage der Gleichstellung von Frauen, Umweltschutz, Erinnerungskultur, die Präsenz und Bedeutung der Briten der Stadt, Verflechtung von Politik, Stadtverwaltung und Wirtschaft. Es werden aber auch ganz viele Alltagsgeschichte vorkommen: Wohnen, Vereinsleben, Kultur und vieles weitere mehr.

 

Sind Zeitzeugen-Interviews geeignete Quellen, um historische Fakten zu erfahren? Oft erinnern sich Zeitzeugen einfach falsch …

 

Akten geben häufig nur die Perspektiven der „Herrschenden“, der Verwaltung, wieder. Wir finden darin nur selten die Stimmen der „betroffenen Gruppen“ oder „Beherrschten“. Wir brauchen aber auch die Perspektiven „von unten“, um diesen eher bürokratischen Blick zu kontrastieren. Es stimmt: Zeitzeugen bringen viele quellkritische Probleme mit sich. Unser erklärtes Ziel ist es aber, auch eine Mitmachgeschichte zu erzählen und mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen.

 

Nach welchen Kriterien suchen Sie die Zeitzeugen aus?

 

Es geht schon ein bisschen über Mundpropaganda, wir haben aber über die Presse einen Aufruf gestartet, um das Projekt noch bekannter zu machen. Es gibt darüber hinaus einen Grundstock von Personen in Gütersloh, die seit vielen Jahren Heimatforschung betreiben und mit den wir ebenfalls im Austausch stehen. Diese sind ebenfalls wichtige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sie „versorgen“ uns mit weiteren Kontakten Wir versprechen uns außerdem viel von partizipativen Mitmachmöglichkeiten, wie „Erzählcafés“ oder den „Geschichtswerkstätten“ – beides Formate, die seit einiger Zeit in Gütersloh durchgeführt werden und sich einiger Beliebtheit erfreuen.

 

Ist es richtig, so einen großen „Aufriss“ für die Aufarbeitung der Gütersloher Stadtgeschichte zu machen?

 

Definitiv. Die Stadt ist wie beschrieben ein überaus aufschluss- und lehrreiches Untersuchungsfeld für Dinge, die anders laufen. Wir wissen relativ viel über Metropolen, aber dort, wo die meisten Menschen, nämlich in Klein- und Mittelstädten, leben, hat die Stadtgeschichtsforschung noch reichlich Forschungsbedarf. Gütersloh hat aber auch schon spezielle Mentalitätsprägungen und eine interessante Wirtschaftsstruktur, die entsprechenden Wohlstand begründet. Gütersloh soll in der Forschungslandschaft als aufschlussreiches Feld stärker bespielt werden. 

 

Für wen wird das Buch geschrieben? Kann das auch „Lieschen Müller“ lesen und verstehen?

 

Das ist der Anspruch. Es ist grundsätzlich wichtig, einen guten Duktus zu finden. Das Buch soll aber natürlich in erster Linie wissenschaftlich bleiben. Es wäre wünschenswert, wenn wir es schaffen, den pensionierten Oberstudienrat genauso abzuholen wie Sie oder auch

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