„Ob Dreier-, Vierer- oder Fünferkette, ist total egal.“

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: FC Gütersloh

14.07.2021

Trainer Julian Hesse über die EM und den FC Gütersloh


Julian Hesse, Trainer des FC Gütersloh, schaute die zurückliegende Fußballeuropameisterschaft in erster Linie als Fan, wie er bekennt. Aber er setzt im zweiten Blick auch die Trainerbrille auf und erzählt gt!nfo über seine Sicht der EM. Offene Worte über die deutsche Mannschaft, über Taktik und Systeme, Lehren für die anstehende neue Oberligasaison und was den FC Gütersloh so spannend macht.

  

 Julian Hesse über ...


... Jogi Löw: Jetzt kritisieren ganz viele Leute Jogi Löw. Ich finde diese Kritik-Kultur bei uns nicht so gut. Bitte ein bisschen mehr Wertschätzung, auch gegenüber den Strukturen, die der DFB aufgebaut wird. Es gibt bei uns in der öffentlichen Diskussion immer nur Schwarz-Weiß, keine Grautöne dazwischen.


... die Deutsche Mannschaft: Ich hatte schon ein bisschen das Gefühl, dass es Spieler gab, die jetzt nicht unbedingt auf ihrer besten Position eingesetzt wurden. Da fehlte eine Verbindung zu Gündogan und Kroos, die mehr nach vorne hätten spielen können, also Kimmich als Sechser. Außen Gnabry, Sane und Werner, das wäre schon gut gewesen. Dazu Havertz als falschen Neuner zum Durchkombinieren. Was uns natürlich fehlte, war einer wie Lewandowski.


... Leidenschaft: Daran hat es bestimmt nicht gemangelt. Von Hummels gibt’s den schönen Spruch: Fehlende Leidenschaft ist die kleine Schwester vom Stellungsfehler. Es sind eben die absoluten Kleinigkeiten, die ein Spiel entscheiden. Kroos mit einem eher unglücklichen Pass, Thomas Müller, der vorbeischoss: sowas passiert und das kann ein Spiel entscheiden. Man kann einen Sieg nicht herbeirechnen.


... Mentalität: Die deutsche Mannschaft hat genug hungrige Spieler mit der gewünschten Mentalität: Neuer, Kimmich, Gosens, Hummels, Müller. Typen wie Sané und Gnabry sind nicht in der Mannschaft, um die anderen mitzureißen, die haben andere Aufgaben. Ich glaube nicht, dass man irgendwo eine Mannschaft findet, wo man elf absolute Mentalitätsmonster hat. Es gibt technisch starke, mental starke und so weiter. Man achtet schon auf Diversität bei der Aufstellung von Teams.


... Teamgeist: Wer meint, Teamgeist sei wichtig für den Erfolg, hat nur bedingt recht. Wir brauchen Teamgeist, klar, aber er ist nur ein Baustein, der über Sieg oder Niederlage entscheidet. Zusammenhalt in einem Team bedeutet für mich, dass Spieler auch eklige Wege für die Mannschaft gehen. Ich glaube, dass das Zusammenspiel von Mentalität, taktischem Plan und der passenden Aufgabenzuteilung für jeden Spieler entscheidend ist.

... EM-Genuss: Da überschneiden sich Zuschauer- und Trainerperspektive wohl: Auch ich finde es als Trainer toll, wenn Mannschaften aktiv Fußball spielen, viel Druck machen, nach vorne gehen. Wie Italien, wie Spanien. Diese Teams sind die Messlatte für den modernen Fußball. Das ist ja auch Unterhaltungssport. Wer zu abwartend spielt, wird den Erfolg nicht haben – Beispiel Ungarn bei der EM.


... Systeme: Ich finde, dass es total egal ist, ob wir mit Dreier-, Vierer- oder Fünferkette spielen. Viel, viel wichtiger ist, dass die Abläufe in der Mannschaft klar sind. Jeder Spieler muss wissen, in welcher Situation er welche Räume zu besetzen hat. Die Wahrheit ist, dass es beim Fußball, auch beim höchsten Niveau, letztlich um Nuancen, um Millisekunden und um Zentimeter geht. Fußball ist durchaus planbar, das zeigen Toptrainer wie Guardiola, Klopp, Tuchel und andere. Aber dann kommt es auch immer auf die konkrete Situation an. Es ist eben so, dass nicht immer jede Situation perfekt aufzulösen ist – wenn zum Beispiel ein Stirling mit 180 Sachen auf dich zukommt.


... Professionalisierung: In den vergangenen 20 Jahren ist der Fußball noch mal entscheidend professionalisiert worden. Die Spieler sind heute viel athletischer, das Spiel hat an Tempo enorm gewonnen. Physiotherapeuten, Ernährungsberater, Psychologen haben neben der immer moderner werdenden Trainingsmethodik sehr viel rausgeholt aus dem Potential der Spieler.


... Standardsituationen: Sie wundern sich, dass bei Strafstößen die Bälle immer so hoch über Mauer und Tor hinwegfliegen, auch bei der EM? Dann schauen Sie sich mal die Copa America mit Messi an, da ist es noch schlimmer. Ein Grund ist, dass viele Torhüter eine extreme Spannweite haben. Es reicht dann nicht, den Ball aufs Tor zu bringen, da muss schon Wucht und Präzision dahinter sein, um den Torwart zu überwinden. Richtig ist, dass es bei Mauern sicher noch mehr Varianten geben sollte, als nur draufzuschießen. Da gibt es noch Potentiale, bei Eckbällen ist man heute weiter. 


... EM und FC Gütersloh: Es entspricht absolut unserer Philosophie in Gütersloh, aktiv sein zu wollen in jeder Phase des Spiels, das ist ja auch die Schlüsselbotschaft dieser EM. Dass zum Beispiel das Verteidigen schon beim Stürmer beginnt.


... die Oberliga: Auch die Amateurligen sind ein Stück weit mehr professionalisiert. Allerdings können wir unseren Spielern lediglich Handlungsempfehlungen auch für ihre allgemeine Gesundheit geben, weil unsere Spieler ja alle noch arbeiten und wir nur beschränkt trainieren können. Aber wir haben da inzwischen viel Expertise im Trainerteam im Bereich Athletik und Ernährung. Da können wir den Spielern sehr viel mitgeben. Die Spieler sind dankbar dafür und orientieren sich daran.


... das neue FCG-Team: Es gibt sechs bis sieben Personaländerungen. Den Kern der alten Truppe haben wir zusammenhalten können. Ich freue mich, Rob Reekers als Sportlicher Leiter in unserem Team zu haben. Er hat unheimlich viel Expertise, das ist nicht in Gold aufzuwiegen, was er beiträgt.


... Fußballvideos: Wir haben in der vergangenen Saison zur Vorbereitung unserer Mannschaft vielfach Videos eingesetzt, zum Beispiel, um Pressingsituationen aus der Premier League und der Champions League zu studieren. Natürlich liegen zwischen Idee und Umsetzung oft Welten. Vor der vergangenen Saison hatten wir in der Vorbereitungsphase die Balleroberung im Zentrum trainiert, bekamen aber zwei, drei Packungen, weil unsere Außenspieler dann immer zwei, drei Meter zu spät kamen. Wir haben also vom Zentrum nach außen gelenkt und es so gelöst. In der kommenden Saison arbeiten wir übrigens mit Soccer-Watch, wo das ganze Spielfeld gezeigt wird. Dann kann man die Spiele besser analysieren, wenn man auch das Spiel ohne Ball sieht.


.. die FCG-Stärken: Das ist vor allem das ruhige Miteinander im Drumherum. Aus der Außensicht ging es ja in der Vergangenheit immer recht turbulent zu. Mit FCG-Sponsor Thomas Hagedorn und Rob Reekers haben wir zwei Säulen, die sehr lösungsorientiert im ruhigen Miteinander arbeiten und sich auch nicht zu wichtig nehmen. Es werden immer wieder schwierige Phasen kommen. Acht Siege und ein Unentschieden wie in der vorigen Saison sind ja nicht planbar. Es wird entscheidend sein, in schwierigeren Situationen Ruhe zu bewahren.


... die FCG-Spieler: Das ist eine sehr, sehr junge, ehrgeizige, offensiv ausgerichtete Mannschaft. Die Spieler investieren viel für die Oberliga, achten sehr auf ihren Körper, vor und nach dem Training oder dem Spiel, machen zum Beispiel danach mit Eigeninitiative noch ein Programm, um schneller in die Regeneration zu kommen. Die sind richtig hungrig und wollen zeigen, dass sie eine gute Mannschaft sind. Auf diesem Level trainieren sie auch – super konzentriert und intensiv. Ziel wird es immer sein, dem Gegner nach der Balleroberung wenig Zeit zum Atmen zu geben.


... das Saisonziel 21/22: Ich glaube, Meinerzhagen, Wattenscheid und Kaan-Marienborn sind sehr schlagkräftig, aber wir brauchen uns nicht zu verstecken. Es wird schwierig, einen Start wie im vergangenen Jahr mit den acht Siegen und einem Unentschieden zu wiederholen. Aber wir haben die Punktezahl auch nicht zufällig geholt.

 

 

 

 

 


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