Interview: Armut macht krank

Autor: gt!nfo

Fotos: Susanne Zimmermann

27.11.2022


Wie lässt sich belegen, dass Armut krankmacht?

Diese Frage ist leider nicht kurz und einfach zu beantworten. Es gibt unterschiedliche wissenschaftliche Fachgebiete, die sich mit dem Thema Armut auseinandersetzen. Als Beispiele sind hier zu nennen die Soziologie, die Gesundheitswissenschaft, die Medizin oder auch die soziale Arbeit. Daneben setzen sich auch andere Fachbereiche mit dem Thema Armut auseinander. In den vergangenen Jahrzehnten konnte in unterschiedlichen Studien deutlich gezeigt werden, dass Armut und Gesundheit einen sehr starken Zusammenhang haben. So konnte beispielsweise in einer Untersuchung, die 48 Studien zusammengefasst hat, und insgesamt 1,7 Millionen Menschen aus Großbritannien, Frankreich, Schweiz, Portugal, Italien, USA und Australien eingeschlossen hat, zeigen, dass Armut mit einer verkürzten Lebenserwartung einhergeht und das sogar stärker als bei Bluthochdruck, Alkoholkonsum oder Übergewicht. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen hat einen mehrdimensionalen Armutsindex entwickelt. Hier wird gemessen, wie stark ein Haushalt unter Entbehrungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Lebensstandard leiden muss. Vergleicht man nun Deutschland mit dem ärmsten Land der Welt, dies ist der Süd-Sudan, so muss man festhalten, dass in Deutschland das durchschnittliche Lebensalter bei cirka 80,6 Jahren liegt. Betrachten wir den Sudan als ärmstes Land der Welt, so liegt dort die Lebenserwartung bei 55 Jahren. Diese Zahlen sind beeindruckend und machen deutlich, wie sehr Armut und Lebenserwartung zusammenhängen und damit Gesundheit ein wesentlicher Faktor ist. Auch finden wir Belege, dass sozioökonomische Belastungsfaktoren wie zum Beispiel gesellschaftlicher Ausschluss, unsichere Lebensbedingungen, oder schwieriges Wohnumfeld mit psychischer Belastung einhergehen.


Warum macht Armut krank?

Warum Armut krank macht, kann unterschiedliche Ursachen haben. Erst einmal kann Armut unterschiedlich definiert werden. Die bekannteste Definition ist eine ökonomische. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben hat, gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet bzw. einkommensarm. Daneben spielen aber auch Themen der sozialen Teilhabe eine Rolle. Hier zu nennen sind der einfache Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung mit entsprechender Chancengleichheit, die Ausübung von Rechten oder auch das Thema menschenwürdiges Arbeit. Fokussiert man sich nun auf die ökonomische Definition von Armut, so müssen wir feststellen, dass wir viele Hinweise haben, wer armutsgefährdet ist und was Armut für die Gesundheit bedeutet. So sind Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern deutlich armutsgefährdet. So lag die Armutsquote in dieser Bevölkerungsgruppe im Jahr 2021 bei 41,6 Prozent. Höhere Quoten bei der Armutsgefährdung finden wir ausschließlich im Bereich der Menschen, die erwerbslos sind. Hier lag die Armutsquote im Jahr 2021 bei 48,8 Prozent. Hohe Quoten der Armutsgefährdung finden wir auch bei Menschen mit einem niedrigen Schulabschluss sowie mit Migrationshintergrund. Nun stellt sich aber die Frage, warum dies eine Auswirkung auf die Gesundheit haben kann. Man kann es so zusammenfassen: Armut und soziale Ausgrenzung hängen eng zusammen. Dies hängt damit zusammen, dass neben den ökonomischen Belastungsfaktoren auch viele andere gesellschaftliche Kontexte eingeschränkt sind. So finden wir häufig einen gesellschaftlichen Ausschluss, da man sich kulturelle oder andere Freizeitangebote nur schwer leisten kann, unsichere Lebensbedingung sowie ein eventuell unsicheres und prekäres Wohnumfeld. Am Ende kommt eins zum anderen. Alle diese Dimensionen hängen eng zusammen und können dazu führen, dass die Gesundheit deutlich eingeschränkt wird und die Lebenserwartung sinkt.


Gütersloh und Ostwestfalen gelten im Vergleich zu anderen Regionen als eher gut situiert. Gibt es hier trotzdem Anlass zu Besorgnis was zunehmende Armutsgefährdung betrifft?

Armut ist auch in Gütersloh ein Thema. Hierzu braucht es einen Blick in die aktuelle Berichterstattung der Zeitung. Wir sehen, was in der Gütersloher Tafel oder auch in der Suppenküche los ist. Das ist die Spitze des Eisberges. Die Armutskonferenz, ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Akteuren von Hilfesystemen und Politik in Gütersloh, befasst sich schon seit Jahren mit Fragen von Armut in der Stadtgesellschaft und hat schon vielfach über das Thema in Gütersloh berichtet. Die Quoten der Armutsgefährdung bei Alleinerziehenden oder Menschen mit Migrationshintergrund entsprechen sehr wahrscheinlich auch denen im Bundesdurchschnitt. Ganz genau kann man das aktuell nicht sagen, da der letzte große Sozialbericht der Stadt Gütersloh aus dem Jahr 2015 stammt. Teile des Sozialberichts wurden in der jüngsten Vergangenheit aktualisiert, so z.B. das Thema Wohnungslosigkeit aus dem Jahr 2020. Was aus meiner Perspektive fehlt, ist eine weitere Bündelung der Daten, um eine breite Perspektive zu enthalten. Wie gut eine Gesellschaft bzw. die Stadtgesellschaft mit dem Thema Armutsbekämpfung umgeht, kann man über den Begriff der sozialen Kohäsion definieren. Soziale Kohäsion meint, inwieweit die Gesellschaft das Wohlergehen aller Mitglieder im Sinn hat und diese zu sichern bereit ist. Dazu gehört die Minimierung von Ungleichheit und die Vermeidung von Marginalisierung Unterschiede und Spaltung zu bewältigen sowie die Mittel zur Erreichung des Wohlgeschehens aller zu gewährleisten. Diese Definition stammt aus den Europarat. Mit dieser großen Aufgabe steht Gütersloh nicht alleine dar. Auch haben wir in den letzten Jahren viele Menschen mit Fluchthintergrund in der Stadtgesellschaft hinzugewonnen. Auch diese müssen in die Betrachtung miteinbezogen werden.


Können Sie die statistischen Entwicklungen auch in Ihrem Arbeitsalltag in der LWL-Klinik erkennen?

Durchaus, das Thema Armut und Gesundheit macht auch vor psychischer Erkrankung keinen Halt. Hier gibt es allerdings zwei Richtungen, die beide Beachtung finden müssen. Einerseits gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Armut und sozialer Ausgrenzung und einer schweren psychischen Erkrankung. Hier folgt die Armut der Erkrankung, da aufgrund dieser eine gewisse von der Gesellschaft erwartete Produktivität nicht mehr erbracht werden kann. Damit gehen die weiteren Faktoren sozialer Ausgrenzung und Ähnliches einher. Jedoch gibt es auch den umgekehrten Zusammenhang. Aufgrund von Armut, die zum Beispiel durch Erwerbslosigkeit entsteht, können unterschiedliche psychische Belastungsfaktoren auftreten. Dies wiederum kann zu einer psychischen Störung bzw. Erkrankung führen. Die Entstehungsfaktoren sind vielfältig, jedoch sehen wir, dass sich verändernde Lebenssituationen, die vor allem mit ökonomischen und gesellschaftlichen Nachteilen einhergehen, viele Menschen so stark belasten, dass sie professionelle Hilfe benötigen. Dies trifft auch Kinder und Jugendliche. In der jüngsten Vergangenheit kam auch noch die Pandemie und deren Auswirkungen hinzu. Die Krankheitsbilder, die mit diesen Phänomenen in der Psychiatrie einhergehen, sind unterschiedlicher Natur. Häufig finden wir allerdings Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen.


Was wäre hier vor Ort zu tun, um einer Entwicklung zu mehr Armutsgefährdung zu begegnen?

Aus meiner Perspektive sind unterschiedliche präventive Ansätze möglich. Klar ist: Alles das kostet Geld. Hier möchte ich noch einmal auf den Begriff der sozialen Kohäsion zurückkommen. Nur wenn wir als Gesellschaft diese Fähigkeit an den Tag legen, werden wir das Thema Armutsgefährdung fokussieren und Probleme in den Griff bekommen. Hier ein paar Ideen, die vielleicht dazu beitragen können, das Thema in der Stadtgesellschaft präsenter zu machen. Man könnte darüber nachdenken, eine Abteilung oder ein Referat gegen Armut zu etablieren. Damit ist das Thema in der Verwaltung und der Politik gesetzt. Man würde regelhaft sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Wir müssen, um weiterhin auf die Notlagen zu reagieren, die caritativen und gemeinnützigen Vereine unterstützen, die sich sehr um das Wohlergehen der Menschen in Armut bemühen. Ein Riesenthema ist Teilhabe zu ermöglichen. Soziale Teilhabe ist einer der wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen können, Ungleichheit zu nivellieren. Dies fängt vor allen Dingen in Kindergärten und Schulen an. Hierzu gehören Sprachkurse, damit Kinder, gerade wenn sie in weiterführende Schulen kommen, das Muttersprachniveau der deutschen Sprache erreichen, um chancengleich behandelt zu werden. Hierzu gehört auch die Abschaffung von Hausaufgaben, die eine große strukturelle Diskriminierung darstellen. Hausaufgaben können ab einem gewissen Grad nicht mehr durch die Kinder/Jugendlichen alleine absolviert werden und brauchen häusliche Unterstützung. Wenn diese nicht gewährleistet ist, haben wir eine große Ungleichheit innerhalb des Schulsystems geschaffen. Ein weiteres Thema könnte kostenlose Schulspeisung sein, damit Kinder gesund und ausreichend ernährt sind. Dies ist keinesfalls bei jedem Kind gegeben. Ein weiterer wichtiger Punkt sind Gesundheitsdienstleistungen, die am Ort des Bedarfes entstehen. Das heißt, haben wir entsprechende mobile Teams, die in sogenannte soziale Brennpunkte fahren, um dort die Gesundheitsdienstleistungen an die Frau oder den Mann zu bringen, damit wir Gesundheit auch tatsächlich in prekären Lebenssituationen herstellen bzw. Krankheit bekämpfen können. All diese Maßnahmen könnten dazu beitragen, das Thema in Gütersloh auf eine neue Ebene zu heben.


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