„Wie schade, dass Beton nicht brennt“

Autor: gt!nfo

Fotos: Die Glocke; Archiv

03.12.2023

In den kommenden Ausgaben des gt!nfo laden wir Sie ein, uns auf der Erkundungsreise durch die Gütersloher Zeitgeschichte zu begleiten. Bis zum Jahr 2025 stellen wir Ihnen ein Jahrzehnt der Stadtgeschichte vor: angefangen von den Trümmerjahren der Nachkriegsgesellschaft über die Jahre des „Wirtschaftswunders“ und Phasen der Globalisierung bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.  Eine kleiner Vorgeschmack auf das im Jahr 2025 zum Stadtjubiläum erscheinende Buch über die Stadtgeschichte …


Tim Zumloh, Christoph Lorke und Joana Gelhart.


Gütersloh im Jahr 1979: Nach Jahrzehnten der Planung bekommt die Stadt mit der Stadthalle ihre „gute Stube“, wie die lokalen Zeitungen berichteten. 23 Millionen Mark teures städtisches Sendungsbewusstsein und Ausdruck des Wachstums und vor allem des wirtschaftlichen Erfolgs der Stadt, der 1847 mit der Anbindung an die Köln-Mindener-Eisenbahn begonnen hatte. Nach Jahrzehnten des Arbeitsfleißes, der Spar- und Genügsamkeit folgte nun die Belohnung mit der für die eigene Größe angemessenen Freizeiteinrichtung – so legen es zumindest die Kommentatorinnen und Redner der Zeit nahe.


„Wie schade, dass Beton nicht brennt“ (sic), sprühen andere auf ihre Fassade. Kritik an einem vor allem auf Prestigeobjekte setzenden Stadtbau, aber auch an Abrisswellen in der Innenstadt und ausuferndem Straßenbau gab es auch in Gütersloh. Diese Kritik verband sich meist auch mit einer Ablehnung der vermeintlich zu großen Wirtschaftsnähe der Stadtoberen. „Was glaubst du, wie teuer ist Gütersloh, fragt Miele. Keine Ahnung, aber ich verkaufe nicht, antwortet Bertelsmann“ – so ein Witz, der in Gütersloh gerne erzählt wurde und bis heute wird. Die Episode des Stadthallenneubaus steht symptomatisch für die vielfältigen Auf- und Umbrüche der Stadt Gütersloh in den vergangenen Jahrzehnten.

Sie wird in diesen Jahren jedoch nicht nur ihr architektonisches Gesicht massiv verändern, sondern auch einen enormen Zuwachs an Einwohnern erleben, sowohl aus dem Umland als auch aus verschiedenen Ländern: Aktuell leben Menschen aus über 100 Staaten der Welt in der Stadt an der Dalke. Diese vielfachen Verwandlungen der Stadt hängen auf das Engste mit der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Arbeitskräftebedarf zusammen. Die in der Regel familiengeführten, oft traditionsreichen Unternehmen in den Bereichen Textilindustrie, Möbelherstellung, Nahrungsmittelproduktion, Maschinenbau oder Druck- und Verlagswesen bilden eine wesentliche Voraussetzung für die städtische Entwicklung. Die nahm oft einen ganz anderen Verlauf als in anderen bundesdeutschen Städten: Wirtschaftliche Transformationen und Krisenzeiten, wie in Folge der Ölkrise 1973, schlugen in Gütersloh weniger zu Buche. Vielmehr schienen gerade die 1970er- und 1980er-Jahren eine Aufbruchszeit in Gütersloh zu sein, und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in städtebaulicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. Diese Entwicklungen sind erklärungsbedürftig und machen Gütersloh zu einem wissenschaftlich reizvollen Untersuchungsfeld. In den nächsten Wochen und Monaten zoomen wir in acht Jahrzehnte Gütersloher Stadtgeschichte – eine Stadtgeschichte, die vielmehr ist als die oft zitierte Entwicklung vom verschlafenen Heidedorf zur Kreis- und kleinen Großstadt mit globalen Bezügen.

 

Warum eine Gütersloher Stadtgeschichte?

Seit Anfang des Jahres 2022 nimmt unser dreiköpfiges Team eben jene Besonderheiten genauer unter die Lupe. Das Projekt wurde von der Stadt Gütersloh in Auftrag gegeben. Mit der Expertise zweier Forschungsinstitute – dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg – spüren Joana Gelhart, Christoph Lorke und Tim Zumloh dem Werden der Stadt nach. Wir blicken dabei vom Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart, oder genauer: bis in die Zukunft, nämlich bis in das Jahr 2025, das 200. Jubiläumsjahr der Stadtwerdung. Im Festjahr erscheint eine Schrift, in der die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erforschung zusammengetragen werden. Dieses Buch stellt die Fortführung der früheren Stadtgeschichte dar, die vom Team um den Historiker Werner Freitag im Jahr 2001 vorgelegt wurde. Sie reicht von den städtischen Ursprüngen des „Heidedorfes“ über die Rolle der Industrialisierung für die Stadt, das Wirken von Unternehmerfamilien, Bürgertum und Arbeiterklasse bis zur „Stunde Null“ im Frühjahr 1945. Eine solche „Stunde Null“ hat es allerdings in Gütersloh ebenso wenig gegeben wie andernorts. 1945 war zweifellos ein harter politischer Bruch und stellte für viele Menschen einen spürbaren Einschnitt dar. Zugleich ist das Jahr auch eine künstliche Zäsur, sind doch die vielen Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik auch für Gütersloh charakteristisch und untersuchenswert. Eine stadtgeschichtliche Untersuchung kann die Konjunkturen der Stadtgeschichte fassbar machen und erklären, warum und wie sich bestimmte Entwicklungen hier vollzogen haben. Was hat es beispielsweise mit dem vielbeschworenen „Gütersloher Geist“ auf sich? Welche Bedeutung hatte und hat die Tatsache, dass hier zwei Weltunternehmen ihren Stammsitz haben? Welche Bilder Güterslohs – „Provinz“, „Industriestadt im Grünen“, „Einkaufsstadt“ usw. – waren zu welchen Zeiten und aus welchen Gründen dominant? Mit der Beantwortung dieser und vieler weiterer Fragen kann die Stadtgeschichte Unbekanntes zutage fördern, „blinde Flecke“ sichtbar machen, Bekanntes erklären, an vermeintlichen Gewissheiten rütteln. Geschichte ist dabei jedoch nicht nur Vergangenes, sondern immer auch Gegenwart: Der geschichtliche Rückblick kann Mythenbildungen entgegenwirken und Orientierung bieten. Vor allem zeigt uns der historische Rückblick, dass die Stadt auch ein Ergebnis von Konflikten war. Was „Gütersloh“ war und ist, das haben die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt immer wieder neu definiert oder verworfen, angenommen oder abgelehnt.


Wie arbeiten eigentlich Historikerinnen und Historiker?

Historikerinnen und Historiker vergraben sich gerne in Aktenbergen? Das stimmt nur zum Teil. Das Archiv ist die erste Anlaufstelle für das historische Arbeiten, in unserem Fall das Gütersloher Stadt- und Kreisarchiv in der Moltkestraße. Dort liegen allerdings nicht nur Akten: Dias, Fotografien, Filme, Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Plakate und andere Objekte können dort auf die städtische Vergangenheit hin befragt werden. Gütersloh stand und steht darüber hinaus in vielfältigen Beziehungen zur Region und Bundesrepublik, weshalb relevantes Material auch in den Landesarchiven (vor allem in Detmold) oder im Bundesarchiv zu finden ist. Dort warten Dutzende Bücher und meterweise Akten, die ganz unterschiedliche Schriftstücke und manche Überraschung bereithalten: Von Protokollen der Ratssitzungen, Manuskripte von Reden über Nachlässe, Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern hin zu digitalem Material, wie E-Mail-Verkehr oder Websites der Stadt, das mit voranschreitenden Jahren immer mehr zunimmt. Bei dieser Quellenflut gilt es, akribisch zu sichten, sorgsam zu gewichten, Relevantes von weniger Relevantem zu unterscheiden, und in detektivischer Kleinstarbeit zu rekonstruieren, wie und warum sich dies oder das zugetragen hat – oder zugetragen haben könnte. Dazu gehören auch Atmosphärisches, Nebengeräusche, Stimmungen – kurz all das, was zwischen den Zeilen steht.

Bei allem, was im Archiv zu finden ist, müssen wir auch die Frage stellen, was nicht zu finden ist: Eindrücke, Meinungen und Wahrnehmungen von Gütersloher Bürgerinnen und Bürgern sucht man zwischen Verwaltungsakten, Ratsprotokollen und Co. meist vergebens. Der Untersuchungszeitraum eröffnet uns in dem Zusammenhang eine große Möglichkeit: Viele der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen leben heute noch. Wir können also mit ihnen über die Ereignisse sprechen und so Lücken schließen. Ihre Erinnerungen bilden also eine wertvolle weitere Quelle für die Erschließung Güterslohs, Damit ist jüngere und jüngste Gütersloher Geschichte eine Geschichte, die noch nicht abgeschlossen ist, nachwirkt, kurz: die noch „qualmt“.


Alle Gütersloherinnen und Gütersloher sind eingeladen, sich an der Erforschung zu beteiligen, zum Beispiel über die Erzählcafés und die Geschichtswerkstatt, die regelmäßig stattfinden. Somit soll die Gütersloher Geschichte zu einer Mitmachgeschichte werden.

 

Verfolgen Sie die Stadtgeschichte auch auf unserem Instagram-Account


Die Texte schreiben Christoph Lorke, Joana Gelhart und Tim Zumloh.

 

 

Unsere Website verwendet Cookies. Bleibst Du weiter auf unserer Website, scheinst Du nicht nur von der Seite begeistert zu sein, sondern stimmst auch der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen findest Du hier